Obacht, Herr Hauptlehrer

Manchmal denke ich, wir haben das helle, in meinen Augen große Klassenzimmer erst kürzlich verlassen. Es war aber im Jahr 1968, als ich in die Realschule nach Erding, Hl. Blut kam. Noch heute, fast 40 Jahre später sehe ich mich und meine Mitschülerinnen und Mitschüler ganz deutlich in den alten Schulbänken, in der Volksschule in Anzing sitzen: in der linken, vorderen Zimmerhälfte hatten die Sechstklässler Buben ihren Platz, es waren nicht so viele. 1956 scheinen wesentlich mehr Mädchen das Licht der Welt erblickt zu haben.

Die Mädchen, die 1955 auf die Welt kamen, saßen an mehreren aneinander gereihten Vierertischen in der linken, zweiten Zimmerhälfte. Ihnen gegenüber hatten sechs Achtklässler Mädchen ihren Platz und die Mitte des Zimmers füllten die Buben der Siebten Klasse. Im letzten Winkel des Raumes hatten vier Achtklässler Buben ihren Platz gefunden.

An einem Vierertisch, ziemlich in der Mitte des Zimmers hatte ich meinen Platz, direkt vor den Schulbänken der Siebtklässler Buben. Ich konnte mein Elternhaus sehen, selbst wenn die großen, gelben Markisen schützend vor den Kippfenstern ausgestellt waren. Hitzefrei kannten wir nicht!

Hauptlehrer Pöller hatte auch seinen Platz an unserem Vierertisch. Er war ein kleiner, schlanker Mann, um die 60 Jahre; für uns Schüler also steinalt! Er saß, wie so oft auf „unserem“ Vierertisch, der zweiten Klassenhälfte zugewandt. Das hatte zur Folge, dass Karin, meine Nachbarin zu meiner linken näher zu mir rutschte und wir beide uns manchmal vom Platz her beeinträchtigt fühlten.

Wie so oft hatten wir Sechstklässler vom Hauptlehrer eine „stille Arbeit“ bekommen. Wir saßen und grübelten über ungeliebten Textaufgaben. Hauptlehrer Pöller unterrichtete gerade die Achtklässler; für die zehn jungen Menschen war die Schulzeit mit Ablauf dieses Schuljahres vorüber. Sie standen mit 14 oder 15 Jahren vor dem Beginn einer Lehrzeit.

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Bild 3: Abschlussfoto der Klassen 6/7/8 von 1968
Weder Eltern noch Schüler haben sich jemals über die Form des Unterrichtes beschwert. Über 40 Jugendliche im Alter von zwölf bis vierzehn, maximal fünfzehn Jahren wurden von einer Lehrkraft in einem Raum unterrichtet.

Mit den Textaufgaben kam ich gut zurecht und so hörte ich zu, was Hauptlehrer Pöller mit den Achtklässlern besprach. „Der Po fließt durch Italien“, wie auf Kommando begannen viele Mitschüler zu lachen. Heute schien unser Lehrer nicht besonders gut gelaunt zu sein: „ Ihr sollt`s rechnen, net lacha“, mit diesen Worten funkelte er uns über seinen dunklen Brillenrand hinweg an.

Sofort verstummten wir und schauten schuldbewusst in unsere Hefte. Wir stellten die Autorität von Erwachsenen nicht in Frage, schon gar nicht die unserer Lehrkraft.

Gestenreich erzählte er weiter, unser kleiner drahtiger Hauptlehrer. Er versetzte die Klassen buchstäblich in das damals so ferne Italien. Er konnte richtiggehend in Fahrt kommen, ich mochte ihn und hörte ihm gerne zu.

Heidi, die mir gegenüber saß, sah mich mit einem beschwörenden Blick an. Ich wusste, was dieser Blick zu bedeuten hatte: Was hast du für ein Ergebnis errechnet?

Mir lag auch sehr daran, mit Heidi zu vergleichen. Zu schlimm wäre ein falsches Ergebnis gewesen, die Blamage undenkbar. Wir „Kleinen“, zu denen ich nun mal zählte, hatten durchaus Respekt vor den älteren Mitschülern. In gewisser Weise setzte uns die Zusammenlegung von drei Jahrgängen unter enormen Druck. Heutzutage wäre es für eine Lehrkraft eine unlösbare Aufgabe, jedoch in der Zeit von 1967/68 als über Deutschland das Wirtschaftswunder, aber auch die Studentenrevolten hereinbrachen, herrschte in der Gesellschaft eine ausgeprägte Hierarchie.

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Bild 4: Faschingstage: Helga,Margit,Susi und ich
Mit elf Jahren wusste ich weder über die Politik noch die Studentenbewegung Bescheid. Meine kleine Welt war in dem Dorf, in dem ich seit 1959 lebte, völlig in Ordnung. Sicher war uns Bundeskanzler Konrad Adenauer und der dicke Ludwig Erhard mit der stets qualmenden Zigarre vom Schwarz-Weiß-Fernseher her bekannt, aber interessiert haben uns die Männer, die weit weg, nämlich in Bonn regierten, nicht.

Auf der großen Tafel prangte eine Zeichnung von Hauptlehrer Pöller, auf der er in vereinfachter, klarer Form uns Dorfkindern zu erklären versuchte, welche Aufgaben ein Bundeskanzler und ein Bundespräsident zu erfüllen haben. Ich war beeindruckt und durch unseren Lehrer begann ich mich damals für Politik zu interessieren.

Lebten wir doch in sehr bewegten Zeiten: nachdem Bundeskanzler Erhard seinen Rücktritt eingereicht hatte, bildete sich am 30. November 1966 unter dem neuen Bundeskanzler Georg Kiesinger CDU mit der SPD eine große Koalition.

Mitte April 1967 stirbt Altbundeskanzler Adenauer 91-Jährig; mit meinem Großvater sah ich damals die großen Beerdigungsfeierlichkeiten im Fernseher.

Mein direktes Gegenüber im Klassenraum, die hübsche, dunkelhaarige Heidi versuchte weiterhin mit mir Kontakt aufzunehmen. Natürlich nonverbal; wir alle wussten nur zu gut, dass der Herr Hauptlehrer alles, was im Raum vor sich ging mitbekam und darauf reagierte. Da meine Gedanken allzugerne abschweiften und ich immer mithörte, was er den anderen Jahrgangsstufen berichtete, versuchte Heidi mich unter dem Tisch zu erreichen: Sie gab mir einen leichten Tritt gegen das Schienbein. In diesem Moment fiel die Blumenvase, die die Mitte unseres Tisches sehr dekorativ zierte, um. Das Wasser, natürlich für die Wiesenblumen gedacht, rann in einem kleinen Rinnsal auf das Hinterteil unseres Hauptlehrers zu, der auf unserem Tisch saß und die Achtklässler unterrichtete. Karin, stets resolut und ein Mädchen der Tat, versetzte dem überraschten Lehrer einen beherzten Klaps auf den Allerwertesten und rief: „Obacht, Herr Hauptlehrer!“. Dieser war flugsartig aufgesprungen und besah sich das Malheur: „Jetzt holt`s aber schnell an Putzlappen und wischt`s auf. Sowas kann scho amoi passieren“, meinte er in seiner ruhigen Art und setzte noch hinzu: „morgen dürft`s scho wieda Blumen mitbringen“. Ja, er hatte die berühmte raue Schale und den weichen Kern.

Unser Hauptlehrer liebte die bayrische Küche und die bayrische Mentalität, daran gab es keinen Zweifel. Es trug sich zu, dass wir einen neuen Buben in die Klasse bekamen, er sprach hochdeutsch.

Hauptlehrer Pöller nahm ihn genauer unter die Lupe und wie sehr oft kam das Gespräch auf Mahlzeiten, über Pausenbrote zum deftigen Mittagstisch. Als Karl, so hieß der Neuzugang, das Wort „Eisbein“ in den Mund nahm, wurde es ganz still im Klassenzimmer, wahrscheinlich deshalb, weil von uns keiner wusste, was ein Eisbein ist. „Des hoaßt bei uns Schweinshaxn“, berichtigte ihn der Hauptlehrer mit ernstem, mitleidigem Blick, „des muasst dir merken, Bua, sonst versteht di koaner“, Karl bekam rote Ohren, aber er hatte verstanden.

Frl. Dobmeier, unsere Kindergärtnerin bekam einmal in der Woche „Unterstützung“ von den „großen“ Mädchen. Das bedeutete zwei Mädchen, meist aus der 8.ten Klasse, gingen einige Stunden in den Kindergarten. Das war ein Traumjob – jede wollte hin! Ausgewählt wurden die Kandidatinnen vom Hauptlehrer. In diesem Schuljahr hatte ich einmal die Ehre, im Kindergarten helfen zu dürfen, denn bevorzugt wurden die älteren Schülerinnen, auch um in das Berufsbild reinzuschnuppern und vielleicht die Ausbildung zur Kinderpflegerin anzustreben. „Konnst ma amoi an Putzhodern gebn; Fräulein Dobmeier?“ sagte Mariechen, als ein Kindergartenkind den Tee verschüttet hat. Es war für mich eine traumhaft schöne Zeit, die unbeschwerten Jahre in den 60ern.

Vor den Elternabenden war uns Kindern immer etwas bang zumute. Wusste man doch nie so ganz genau, was alles zur Sprache kommen wird. Meine Eltern gingen zu den Abenden und so wahnsinnig viel erfuhr ich nicht aus ihrem Munde. Auch gut, dachte ich mir und hörte in den Pausengesprächen gut zu, denn die Jahrgänge vor mir waren meist gut informiert.

Vorsichtig pirschte ich mich an die „großen“ Mädchen heran, stets darauf bedacht, „abdrehen“ zu können, sollten sie mich nicht dabei haben wollen. Doch, irgendwie hatte ich viel Glück; vielleicht, weil ich eine gute Völkerballspielerin war, sie ignorierten meinen Annäherungsversuch, duldeten mich großzügig als Mithörerin. Fünf Mädchen, alle älter als wie ich, standen in einem kleinen, lockeren Kreis und unterhielten sich leise und angeregt. Was ich nun vernahm, ließ mich aufhorchen: Frau Lehrer Meyer, die immer die fünften und sechsten Klassen unterrichtete, hatte beim gestrigen Elternabend dafür plädiert, die Kinder „aufzuklären“ . „Normalerweise“ wäre meine Jahrgangsstufe nun bei Irmhild Meyer im Unterricht, aber die Geburtenstarken Jahrgänge, wie z. B. 1956, hatten das Lehrerkollegium in Anzing überfordert, zumindest den gewohnten Gang  durcheinander gebracht. Im vergangen Jahr war ich Schülerin von Frau Meyer, aber eben nur in der fünften Klasse. Ich mochte die Lehrerin, die genauso alt wie meine Mutter war, Jahrgang 1920.

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Bild 5: Margit, Birgit, ich Salzbergwerk Berchtesgaden
Die Lehrerin hatte ein wunderbares Schriftbild und schrieb mir in der fünften Klasse das beste Zeugnis, das ich bis dahin hatte - sowas vergisst man in diesem Alter nicht!

Ganz aufgeregt und fast im Flüsterton unterhielten sich die „großen“ Mädchen über die Themen des gestrigen Elternabends. In der Turnhalle des neuen Schulhauses hatte der Abend stattgefunden und die modebewussten Muttis, die Pfennigabsätze trugen, mussten auf Geheiß des Hauptlehrers die Schuhe vor der Turnhalle ausziehen. Der neue Boden sei nur für Turnschuhe geeignet und die Pfennigabsätze hätten den teuren Boden ruiniert. Alle Lehrkräfte und auch die Hauswirtschaftslehrerin, Fräulein Weichsler, waren anwesend. An diesem Abend soll nun Frau Lehrer Meyer vor allen Eltern das Topthema des Abends: „ Aufklärung der Kinder“, angesprochen haben. Wir waren alle sprachlos. Wie die meisten meiner Altersgenossinnen und Genossen bezog ich mein Wissen aus der „Bravo“. Erst kürzlich hatte ich die Zeitschrift kennen und schätzen gelernt. Karin „entlieh“ von ihrer älteren Schwester die begehrte Zeitschrift und in den Pausen stürzten wir uns auf die „Bravo“. Natürlich war die Zeitschrift in der Schule nicht erlaubt, aber es half nichts, in diesen Jahren hielt der Siegeszug der „Bravo“ unweigerlich an.

Karin war mir heute wohlgesonnen und so drückte ich mich mit der begehrten Beute in das Eck des Waschraumes um mich u. a. über meinen Liebling Roy Black zu informieren. Ich war so vertieft in die Lektüre, dass ich Fräulein Wahler, unsere geschätzte Erst und Zweitklasslehrerin erst sah, als sie sich sehr interessiert über meinen Rücken beugte und vorgab, auch in der „Bravo“ zu lesen. Vor Schreck fiel mir das verbotene Magazin fast aus den Händen. Ruck-zuck füllte sich der Waschraum und der Toilettenraum mit neugierigen Mitschülerinnen. Die Buben, die nicht die Räume der Mädchen betreten dürfen, drückten sich an der Türe die Nase platt. Alle wollten sehen, was mir nun passiert.

Fräulein Wahler, eine erfahrene Lehrerin, die damals kurz der Pensionierung stand, sagte: „ Du weißt, dass die Bravo im Schulgebäude verboten ist!?“. Ich konnte nur nicken; der Kloß im Hals würde mich bald ersticken, davon war ich in diesen Minuten felsenfest überzeugt. „Magst du den Roy Black? Ist das dein Lieblingssänger?“, auch diese beiden Fragen beantwortete ich stumm und spürte, wie mir unendlich heiß wurde. Eigentlich hätte ich gestehen sollen, dass ich Udo Jürgens ebenso gerne hörte, aber ich war vor lauter Angst und Scham dazu nicht in der Lage. Trotz der vielen Menschen um mich herum war es so leise, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören. „Frau Lehrer Meyer ist auch ein Fan von Roy Black“, nahm die Lehrerin den Gesprächsfaden wieder auf. Es waren Monologe, aber sie schien an der Situation Gefallen zu finden.

Ihre blauen Augen ruhten unverwandt auf mir und ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

Nun nahm mir das Fräulein auch noch die Zeitschrift aus der Hand und stellte die Frage: „Gehört die Zeitung dir?“, ich nickte zum wiederholten Male und sah im Hintergrund meine Freundin Karin aufatmen. Sie hätte mir nie verziehen, wenn ich die Wahrheit preisgegeben hätte. Ich denke dieses Kopfnicken hat unsere Freundschaft für die nächsten Jahre gefestigt.

Die schrille Glocke, die das Ende der Pausenzeit ankündigte, rettete mich mitsamt der „Bravo“. Wortlos gab mir meine ehemalige Lehrkraft den Weg frei und ich verließ geradezu fluchtartig den Waschraum. Den kurzen Weg zurück in`s Klassenzimmer empfand ich als Spießrutenlauf. Schadenfreude und Überraschung spiegelte sich in vielen Gesichtern wider. Viele Mitschüler wunderten sich bestimmt, dass mir nicht mehr „passiert“ ist. In der kommenden Unterrichtsstunde überlegte ich fieberhaft, wie die Story weitergehen wird. Es gab unendlich viele Möglichkeiten, die Fräulein Wahler ergreifen und zu meinem Nachteil ausschöpfen konnte. Was würde folgen? „Verweise“ waren mir damals nicht bekannt, was dies ist, erfuhr ich erst in der Realschule in Erding. Mich quälten Gedanken wie: was sagt Hauptlehrer Pöller, wenn sie mich verpetzt und was am schlimmsten für mich war: würden meine Eltern erfahren, dass ich die Bravo lese?

Mit den Augen verfolgte ich, wie Hauptlehrer Pöller sehr anschaulich mit einem Handtuch auf einem Klassentisch demonstrierte, wie vor vielen Jahren die Alpen entstanden. Seine Unterrichtsmittel waren grundsätzlich sehr einfach und damit gestaltete er einen interessanten Unterricht.

„Wer war denn schon mal ganz drin, in den Bergen?“, einige Finger gingen in die Höhe. „Aha, Evi, erzähl` uns doch mal, wie`s da drin is; ich glaube, ihr fahrt`s da öfter nei, weil doch dei Mama von Reichenhall is.“ Zuerst dachte ich an die Tanten, dann aber glaubte ich zu wissen, dass das hier nicht her gehört. Also berichtete ich kurzentschlossen vom Skilaufen. Ich war stolz, dass ich schon ganz gut den Berg runterkam und mit dem Schlepplift fahren konnte. Mit meinen kurzen Ausführungen, in denen ich auch die kurvenreichen und verschneiten Straßen erwähnte, schien der Hauptlehrer zufrieden zu sein. Ich fasste intuitiv Zutrauen, dass die leidige Bravogeschichte vom Tisch sei- ich sollte Recht behalten. Für einige Wochen hatte ich das Interesse an der Zeitschrift verloren.

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Bild 6: Einödhof Ranharting 1966
Mit meinem roten Rad, das ich zu Ostern bekommen hatte, machte ich mich an diesem herrlichen Sommertag auf den Weg zu meiner Freundin Dora. Ich war viel und gerne unterwegs; ich war ein Einzelkind und suchte und pflegte Freundschaften. Ganz besonders gerne fuhr ich nach Ranharting, so heißt der schöne Einödhof, auf dem Dora mit ihrer Familie lebte. Ich liebe diese heißen Sommertage genauso, wie ich den Winter mit Schnee und Eis liebe.

Um diese Jahreszeit wiegen sich die Ähren im leichten Sommerwind, die Felder duften und ich freute mich auf die ca zwei Kilometer lange Fahrt zu dem schmucken Bauernhof. Es gibt mehrere Wege, die nach Ranharting führen, ich entschloss mich immer sehr kurzfristig, welchen Weg ich wählen würde. Auf dem holprigen, staubigen Feldweg, der mich entlang weizengelben Felder führte, kam ich auch durch einen kleinen Ortsteil von Anzing, durch Froschkern. Weiter ging`s durch einen Bauernhof, der von einem Kettenhund bewacht wurde, vorbei an einer kleinen Marienkapelle. Im Mai wurde dort mindestens eine Maiandacht abgehalten. Die Kapelle war dann besonders schön, mit den verschiedensten Wald und Wiesenblumen geschmückt und wir Kinder nahmen ganz selbstverständlich an der abendlichen Andacht teil. Gleich einer Allee gelangte ich nach Ranharting. Nero, der gutmütige Hofhund begrüßte mich als erster; ich liebte diesen schwarz-braunen Schäferhund, der mich oft am Abend zurück in`s Dorf begleitete.

Es herrschte immer reges Leben in Ranharting. Meine blonde, hübsche Freundin, die älteste von insgesamt sechs Geschwistern, hatte mit ihren Schwestern im ehemaligen Bienenhaus ein „Häusl“, ein Spielhaus eingerichtet. Es bedeutete für uns Kinder ein Paradies. Wir spielten oft „Vater-Mutter-Kind“, also Szenen durchaus aus dem Leben gegriffen. Wir versteckten aber auch Schätze, wie z. B. Nagellack und Lippenstift in „unserem“ Häusl.

Die Stunden und Tage unserer unbeschwerten Kindheit vergingen wie im Flug. Noch heute sehe ich vor meinem geistigen Auge die Traktoren an heißen Sommertagen auf den Feldern, sehe sie durch die Höfe fahren, ihre Fracht abladen oder aufladen. Wir wussten um die Gefahren, gerade während der oft hektischen Erntezeit. Die Väter oder älteren Geschwister warnten uns vor den vielfältigen Gefahren, die die moderne Technik in sich birgt. Wir Kinder akzeptierten und befolgten die Anweisungen, meist ohne Murren. Die Zeit, wenn die „Biberl“, die Küken im Brutkasten waren, war für mich ganz besonders faszinierend. Die rote Wärmelampe hüllte die Behausung der „Biberl“ in warmes Licht und die kleinen gelben Lebewesen durften wir manchmal herausholen und streicheln, sie füllten gerade mal eine Kinderhand.

Zum Hofbesitz zählte auch ein kleiner Weiher, der nicht als Badeweiher diente, der aber im Winter zum Schlittschuhlaufen genutzt wurde. Es war eine Selbstverständlichkeit, auch im Winter stundenlang in der freien Natur zu sein. Diese knackigkalten Wintertage, wenn sich aber dennoch die Sonne einige Stunden durchkämpft, liebe ich ganz besonders. Mit großem Spaß rodelten wir die Hügel hinab oder rutschten mit den Lederschlittschuhen über zugefrorene Weiher. Auf dem Foto tragen wir selbst gestrickte Mützen.

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Bild 7: Winterspaß in Ranharting
Jahrzehnte später, als ich mit Dora und ihrem Mann in Bonn, am Rhein spazieren ging, erinnerten wir uns an unsere Kindertage. Wir sprachen über die Jahreszeiten und glaubten zu wissen, dass wir sie als Kinder intensiver, ausgeprägter leben konnten. Ich sagte: „ ich kann die Jahreszeiten nach wie vor riechen und darauf bin ich stolz. Manche Menschen, denen ich erzähle, dass ich das kann, lachen“. „Ich kann sogar die einzelnen Monate riechen“, erwiderte meine Freundin.

Diese frühen Freundschaften, die bereits mit vier oder fünf Jahren geschlossen wurden, tragen mich bis in die heutige Zeit.

In den vergangenen Jahrzehnten habe ich natürlich auch erfahren, dass nicht überall eitel Sonnenschein herrschte, dass nicht jedes Kind solch unbeschwerte Kindertage genießen durfte. Ich habe mich entschlossen, den Fall eines Inzest zu erwähnen. Eine Freundin aus Kindertagen, die ich im Verlauf der Erinnerungen noch zu Wort kommen lassen werde, weil sie unbedingt zu Anzing gehört, berichtete mir in späteren Jahren von diesen schrecklichen Vorgängen in ihrem Elternhaus, als wir das Dorf unserer Kindheit schon viele Jahre verlassen hatten.