Der Treppenabsatz im alten Schulgebäude


Meine kleine Welt war in Ordnung und in dieser Ordnung trat ich am 04. September 1962 in die Volksschule ein.

Ich kannte meine Erstklasslehrerin, Fräulein Wahler vom Kindergarten her und hatte von Nachbarskindern bereits erfahren, dass sie nett ist. Mit einer großen Schultüte, voll mit Süßigkeiten ging ich an der Hand meiner Mutter zur Schule; diese lag gleich gegenüber des Kindergartens. An diesem denkwürdigen Tag hatte ich jedoch keinen Blick für den Kindergarten, denn ich fühlte mich nun endgültig richtig groß! Diese Nichtbeachtung sollte sich schnell wieder wandeln. Vor Festtagen half ich manchmal Fräulein Dobmeier den Raum zu schmücken; vorzugsweise zum 1. Advent baute ich mit ihr in den folgenden Jahren das Kripperl auf.

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Bild 12: erste Schultage
Das Schulgebäude war zugleich das Wohngebäude des Lehrerkollegium, das aus vier Lehrkräften bestand. Es ist das heutige Gemeindeamt Anzing. Als Kinder bekamen wir sofort eingetrichtert, dass der große Schäferhund von Hauptlehrer Pöller gerne die Leute beißt. Der bissige Zeitgenosse wurde meist drinnen gehalten, trotzdem biss er in einem unbewachten Moment Fräulein Wahler kräftig in den Arm, obwohl diese auch im Schulgebäude wohnte und der Hund sie sicher gut gekannt hat. Damals war es ein relativ großer, alter Bau, in jedem Klassenzimmer stand ein mächtiger Holzofen. Wehe, wenn man neben diesem Ofen saß, man verglühte fast und die, die an den Fenstern saßen, froren erbärmlich. Trotzdem, Fräulein Wahler verstand es, uns die Atmosphäre im Zimmer so angenehm wie möglich zu gestalten, denn im Winter brieten wir uns immer herrlich duftende Bratäpfel.

Das war jedoch am ersten Schultag noch kein Thema. Es war nun interessant, wie und neben wem wir alle sitzen durften. Das Fräulein rief jeden persönlich auf, sie hatte bereits ihre Pläne gemacht. Mich setzte sie neben Renate, die ich bereits vom Kindergarten her kannte. Renate hatte ganz blonde Haare und lachte viel, das gefiel mir. Renate hatte bereits im Kindergarten eine Sonderstellung, die wir alle berücksichtigten, sie konnte ihre Beine nicht so bewegen wie wir, sie war querschnittsgelähmt. Renate wurde von ihren Eltern, ihren älteren Brüdern oder Maria gebracht und geholt. So saßen wir nun in den Schulbänken, hatte die braunen Lederschulranzen neben uns gestellt und schauten etwas unsicher in die neue Welt. Vor uns war eine große Tafel, Kreide lag bereit und das Fräulein erzählte uns, dass wir viele Kinder wären, aber sie hätte sich gefreut auf uns und wir würden sicher alles verstehen. Am nächsten Tag sollten wir wiederkommen und uns auf die Plätze, die sie uns zugewiesen habe, setzen. Gesagt, getan; am anderen Morgen war ich natürlich wieder voll Vorfreude und pünktlich, diesmal ohne Schultüte, im Klassenzimmer. Renate wurde gebracht und Fräulein Wahler sagte mir, ich solle doch bitte Renate in der Pause nicht alleine lassen und sie ggf zur Toilette führen. So bildete sich zu Beginn der Schulzeit ein „Mädchenkreis“, wir kicherten und lachten, gründeten später auch eine Bande, mit wechselnden Mitgliedern.

Wir hatten damals nicht das Privileg alleine mit unserer Lehrkraft zu sein. In der zweiten Hälfte des Klassenzimmers waren die Zweitklässler untergebracht. Sie wurden zeitgleich von unserer Lehrerin unterrichtet. In der ersten Schulwoche wurden die Zweitklässler von Fräulein Wahler meist „still“ beschäftigt, sie nahm sich für uns viel Zeit. So hörten wir wie die Zweitklässler auf ihren Schiefertafeln heftig kratzten. Es waren Geräusche, die mir teilweise Schauer über den Rücken laufen ließen. Noch heute kann ich nicht ertragen, wenn jemand z.B. mit dem Fingernagel über ein Fenstersims streicht, dies ist so ähnlich, wie damals der Griffel und die Schiefertafel.

Nichtsdestotrotz freute ich mich, als ich bald eine Schiefertafel bekam, daran war ein Schwämmchen gebunden, damit man seine Fehler mühelos berichtigen konnte. Es war gut, das Schwämmchen außerhalb des Schulranzens baumeln zu lassen, denn sonst konnte man durchaus eine böse Überraschung erleben. Zur Anfangszeit malen alle Kinder gerne und fleißig die eben erlernten Buchstaben auf die Schiefertafel. Am anderen Morgen kontrollierte Fräulein Wahler die Hausaufgaben. Ich war blank entsetzt, als ich meine Tafel aus dem braunen Lederranzen holte. Die mühevoll hingemalten Buchstaben waren teilweise verschmiert, manchmal gar nicht mehr zu erkennen. Ich war einem Tränenausbruch nahe. Sah ich doch durch den Tränenschleier die fein säuberlich aufgemalten Buchstaben meiner Banknachbarin. Schon war Fräulein Wahler hinter mir und sicher hatte sie gesehen, was das feuchte Schwämmchen angerichtet hatte. Ich wagte nicht, mich umzudrehen. „Das machst du nochmal“, sagte sie, mehr nicht. Am Nachmittag schimpfte ich zuhause erst mal ordentlich, erzählte jedoch nichts von meinem „Beinahetränenanfall“ in der Schule. An diesem Tag schnitt ich das Band, welches das verflixte Schwämmchen an die Tafel band ab und legte es in eine verschließbare Seifenschale; so eine Blamage mit den Hausaufgaben sollte es nie wieder geben! Noch etwas ließ mir in den ersten Schulwochen die Tränen in die Augen steigen. Unser Schulgebäude war ehrwürdig alt und vor allem die Holztreppen waren abgelaufen, gefährlich rutschig und eine Stufe im zweiten Absatz war durchgebrochen. Wir wurden sehr wohl vor dieser Gefahr gewarnt, aber das Gebäude war dunkel, der Aufgang sehr gefährlich. Und prompt, bis zum Knöchel versank ich in der Stufe. Erschrocken zerrte ich meinen Fuß aus der Falle, die Splitter hatten mich böse verletzt. Ein hilfsbereiter Achtklässler Bub eilte mir zu Hilfe; dies war mir nur noch zusätzlich peinlich. Ich glaube, ich habe mich nicht einmal bei ihm bedankt und heute kann ich es nicht mehr tun, da er bereits verstorben ist. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kam ich zuhause an, ich redete nicht viel, ich verstand es eher als Schande, dass ich in die Holzfalle getreten war.

An diesem Nachmittag war ich bei meiner Freundin Renate eingeladen. Renates Eltern hatten eine Schreinerei, mitten im Dorf. Das wusste ich schon, war ich doch schon oft dort vorbei gegangen. Ich war auch schon mal im Haus gewesen, denn gleich nach dem Eingang, erste Türe rechts gab es einen kleinen Lebensmittelladen, mit Süßigkeiten. Wenn ich nicht beim Faltermair, mit dem guten Schöllereis hängen blieb und nicht unbedingt die Brausestangerl von der Reis Cence haben wollte, kaufte ich bei Böhm das lek-kere Eiskonfekt. Meist bediente mich Maria und auch heute kam sie mir gleich entgegen, denn Renate hatte berichtet, dass ich heute Nachmittag zum Spielen komme. Bei Familie Böhm war immer viel los. Es roch sehr gut nach Holz, man hörte die Maschinen laufen und im Hof fuhren und kamen Autos, kleine Lieferwagen und große Personenwagen. Was mir besonders gut gefiel, war der Hofhund, es war ein schwarz-brauner Schäferhund.

Renate und ich verbrachten viel Zeit im Wohnzimmer, wir betrachteten Bücher und ratschten über die Schule. Bei Familie Böhm gab es immer Limonade und Gebäck. Der Grundstock für eine lebenslange Freundschaft wurde bei Renate und mir in der ersten Klasse gelegt.

Jahrzehnte später bekam ich von Renates Onkel einen wunderschönen, gedrechselten Kerzenständer geschenkt, auch meine Tochter Veronika erhielt dieses Geschenk zu ihrer Hochzeit. Wir freuten uns sehr und der Kerzenständer bekam auf dem Esstisch einen Ehrenplatz. Er verbreitet einen so angenehmen Duft, der mich an meine Kindheit erinnert.

Nachdem der Anzinger Fotograf, Herr Schmucker uns alle fotografiert hatte, mit der teilweise recht ungeliebten Schiefertafel, begann der Schultag Alltag zu werden. Es gefiel mir grundsätzlich ganz gut, aber der Ablauf störte meine Planungen, denn ich hatte immer viel vor. Unser Unterricht fand nicht nur am Vormittag statt und wir hatten das Klassenzimmer auch noch mit den Dritt und Viertklässlern zu teilen! Eine Woche hatten die Erst und Zweitklässler vormittags Unterricht und in der nächsten Woche wurde der Unterricht für diese Jahrgänge am Nachmittag gehalten. Der selbe Raum wurde zeitgleich nur Vor und Nachmittag vertauscht von den Dritt und Viertklässlern mit ihrer Lehrerin Fräulein Haimerl, benutzt. Was mir noch sehr zuwider war, ist die Tatsache, dass wir im „normalen“ Schulalltag im Schürzchen anzuteten hatten. Ich hasste Schürzchen, seit ich sie im Kindergarten tragen musste. Ich glaube, erst mit Einritt in die dritte Klasse brauchten wir nicht mehr diese lästigen Schürzchen überziehen.

Die gute Nachricht war, dass ein großes, schönes Schulhaus erbaut werden soll; Anzing hatte einen starken Zuzug und Kinder gab es in den kommenden Jahren viele. Noch etwas sehr positives verband mich mit dem Einzug in das neue Schulgebäude: ich wusste, wenn`s so weit war, durfte auch ich in Hefte schreiben, dann gehörte die kratzige Schiefertafel endgültig der Vergangenheit an. Ab der dritten Klasse schrieb man damals mit einem Füller in die Hefte. Den Bau der Schule konnte ich gut verfolgen, denn mein Elternhaus lag sozusagen gegenüber; so hoffte ich, dass das Schulhaus bald erstehen würde!

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass die kleinen Kinder bald lesen und schreiben können“, hörte ich meine Mutter im November des Jahres 62 zu Fräulein Wahler sagen. „Sie werden sehen, dass fast alle zu Weihnachten die Buchstaben kennen und schon die ersten Worte lesen können“, erwiderte unsere Lehrerin. So war es auch. Von Anbeginn an ging es bei uns um die Noten, wir wussten, dass wir gute Noten nachhause bringen sollten.

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Bild 13: George Harrison, Paul McCartney, John Lennon und Ringo Starr, in frühen Jahren
Ich kann mich nicht mehr konkret an Proben in den ersten beiden Schuljahren erinnern. Was mir sehr unangenehm im Gedächtnis geblieben ist, war das einzeln geforderte Vorsingen vor den beiden Schulklassen. Jedes Kind konnte sich aus dem großen, dicken Liederbuch ein Singstück auswählen und musste dies lautstark vortragen. Bei uns Mädchen hörte sich dies ja einigermaßen gut an. Manche Buben, die in ihren speckigen Hosen dastanden und wirklich nicht singen konnten, sprachen den Text. Irgendwie „bastelte“ die Lehrkraft daraus die Note, die dann im Zeugnis stand.

Fräulein Roswitha Wahler konnte hervorragend singen, bis in`s hohe Alter leitete sie in Anzing einen Singkreis.

1.000 Kilometer von der beschaulichen Dorfidylle entfernt tritt zum ersten Mal in neuer Besetzung im Hamburger „Star Club“ die Liverpooler Band „The Beatles“ auf. Die Auftritte in Hamburg sind für das Pilzkopf Quartett das Sprungbrett zu einer beispiellosen Karriere. In Europa bricht eine „Beatlemania“ aus und auch in Anzing entbrannte manchmal ein Generationenstreit wegen der „Haarzotteln“ und der schrecklichen neuen Musikwelle. Es kam schon mal vor, dass besorgte Elternteile die wertvollen Schallplatten aus den Fenstern warfen, weil sie die Musik nicht mehr ertragen konnten.

Aber nicht nur Schallplatten flogen durch die Gärten, der Freund meines Vaters warf einen Brotlaib aus dem Fenster. Er war ein bekannter Choleriker, mit dem berühmten „guten“ Herzen und so manches Mal ging mit ihm der Gaul durch. Seine Tante, mit der er zusammenlebte, kaufte in seinen Augen nicht immer das „richtige“ Brot. Seine Tante hatte nämlich mit dem Bäcker, dessen Brot der Sepp haben wollte, Streit. Sie behauptete, dass die Bäckerin sie um 5 Pfennige betrogen hätte, das war in den Augen der „Tant“ eine Menge Geld. Also ging sie nicht mehr in den Laden, sondern kaufte beim anderen Bäcker. Dieses Brot mochte aber ihr Neffe nicht, also warf er es aus dem Fenster. Meine Mutter brachte nun des öfteren Brot für den Freund ihres Mannes. Es war schon recht lustig, in der Ringstraße.

Ruck-zuck war das erste Schuljahr vorbei und im Herbst 1963 war ich schon eine Zweitklässlerin.

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Bild 14: Fliegerfreunde Hans und Sepp 1962
Mit meinen Eltern hatte ich eine unterhaltsame Urlaubswoche in Kärnten verbracht. Wir lebten in einem Gasthof, ein Bauernhof war auch mit dabei und es gefiel mir sehr gut. In diesem Sommer beschlossen meine Eltern, weiter nach Jugoslawien zu fahren. So kam ich in dem Küstenstädtchen Opatja zum ersten Mal in meinem Leben an das Meer, ich war begeistert. Die Wärme, das klare Wasser, das zwar salzig schmeckte, aber in dem man so gut schwimmen konnte, faszinierte mich. Hier konnte ich viel längere Strecken schwimmen, als wie zuhause.

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Bild 15: Ringstr. 1962, Foto: H. Strasser
Ich wusste sehr genau, wie es ist, wenn man über eine Landesgrenze fährt. Man kommt an ein Zollhäuschen, das mal größer und mal kleiner ist. Nach Österreich gab es oftmals kleine Grenzhäuschen; zuerst hielt man an dem deutschen Grenzhaus, meist winkten einem die Beamten durch, nach wenigen Metern stand man österreichischen Beamten gegenüber. Die Grenzer hatten sehr verschiedene Uniformen an. Nun wollten die Grenzer von den Insassen eines deutschen Autos die Pässe sehen. Meist genügte ein kurzer Blick, ein kurzer Gruß und die Handbewegung signalisierte meinem Vater, dass er weiter fahren konnte.

Nach Jugoslawien einzureisen bedeutete für uns eine lange Prozedur. Mein Vater musste das Auto verlassen und den Beamten in ein Haus folgen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder herauskam und wir die Urlaubsreise fortsetzen konnten. „Ich war im Krieg, bei den Aufklärern, wir sind viel geflogen“, erklärte er mir auf meine Frage. „Alle, die im Krieg waren und in ein Land reisen, das zum Ostblock zählt, werden genau kontrolliert“. In unserer Kindheit wurde viel vom Krieg gesprochen. Fast alle Familien hatten Gefallene zu beklagen und vor allem an Allerheiligen wurde zu den Gräbern gegangen und an die Toten gedacht.

Meine Eltern schnürten mindestens einmal im Jahr ein Päckchen, das an einen unbekannten Onkel in Berlin adressiert war. Onkel Loisl (Alois) war ein älterer Stiefbruder meines Vaters. Er hat den Beruf des Maskenbildners erlernt und sein Weg führte ihn in die Hauptstadt Berlin. Er hat damals all die Ufa-Schönheiten geschminkt und in alten schwarz-weiß-Filmen steht im Abspann sein Name.

Bereits am 13. August 1961 zementierte Ost-Berlin die deutsche Teilung. Die DDR begann mit der Errichtung der Mauer, die fast 30 Jahre stehen sollte. Die Grenzen zwischen dem Westen und dem Osten der Spreemetropole sowie zwischen den drei Westsektoren und der DDR wird mit Stacheldraht und Sperrzäunen abgeriegelt. Die DDR Regierung musste aufgrund ständig steigender Flüchtlingszahlen ein Ausbluten ihres Staates befürchten. US-Präsident John Fritzgerald Kennedy erläuterte im Juli dazu den Kurs seiner Regierung: Für Berlin garantiere er freien Zugang und die Präsenz der Westmächte. Er gab deutlich zu verstehen, dass sich dies nur auf West-Berlin erstreckt.

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Bild 16: Flüchtender Volkspolizist
Die Bevölkerung zeigt sich bestürzt über die Sperrmaßnahmen und glaubt man den Politikern und Medienberichten, so kam der Mauerbau für alle führenden Kräfte der westlichen Welt völlig unerwartet. Im Juli 1963 spricht der jugendhafte Präsident John F. Kennedy den berühmten Satz: „Ich bin ein Berliner“, auf dem Platz des Schöneberger Rathaus.

Kennedy steht für Dynamik, Aufbruch, eine freie, bessere Welt. Die Menschen jubeln ihm zu, er versteht es sie in seinen Bann zu ziehen. Auch seine junge Frau Jacqueline setzt neue Maßstäbe. Sie steht noch heute für Mode, Intelligenz und ihr Sinn für Kultur und Eleganz lässt sich kaum überbieten. Als erste First Lady tritt sie in Washington eine drei Wochen dauernde Weltreise an, die hoch politischen Charakter hatte. Ihr Mann und seine Administration setzte auf ihr Verhandlungsgeschick und wurde nicht enttäuscht.

In diesen bedeutenden Jahren, in denen alle Menschen der westlichen Welt das Gefühl hatten, alles sei möglich, in der getanzt wurde, glitzernde Kleider und hochhakige Schuhe Einzug hielten, erlebten wir Kinder eine sorglose Zeit. Wir waren durch die Fernseher, die mittlerweile in fast alle Haushalte Einzug gehalten hatten, gut informiert. Die Schönen, Mächtigen, Reichen und vor allem die glanzvollen Königshochzeiten holten wir durch einen Knopfdruck in die Wohnzimmer. Aber auch Erschütterndes und Gewalttaten flimmerten über die Mattscheibe: Am 17.08.62 stirbt der 18-jährige Peter Fechter beim Fluchtversuch über die Berliner Mauer. Vom Kugelhagel der DDR Grenzer getroffen, bleibt er unmittelbar hinter der Ost Mauer liegen und Westdeutsche Grenzer und herbei eilende Bürger müssen zusehen, wie er qualvoll verblutet.

Papst Johannes XXIII. setzte in seinem Pontifikat neue theologische, politische und soziale Maßstäbe. In seiner kurzen Amtszeit, von 1958-1963 leitete er zahlreiche politische und kirchenhistorische Umwälzungen ein, damit verschaffte er sich weltweit Anerkennung und Achtung. Im Jahre 1962 berief er das Zweite Vatikanische Konzil ein, das zu einer Öffnung der Kirche führte. Um seine Kirche für den Dialog mit nichtkatholischen Kirchen zu öffnen, ließ er das Sekretariat für die Einheit der Christen gründen.

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Bild 17: Foto mit altem Schulgebäude
Gerade in streng katholischen Gegenden, wie z. B. in Bayern hatten ältere Mitbürger ganz offensichtlich Probleme mit der Öffnung der katholischen Kirche. Manch ein Patriarch sah sich deutlich in seinen Rechten beschnitten, aber die Zeit konnte man nicht mehr zurück drehen. Dieser kluge und gutmütige Papst, der immer ein Lächeln auf dem Gesicht hatte, war ein Hoffnungsschimmer und die Welt wurde nicht enttäuscht.

Am 3. Juni 1963 schaut die Welt gebannt nach Rom. Der „Papst des Aufbruchs“ erliegt im Alter von 81 Jahren seinem Krebsleiden. Ihm folgt auf den Stuhl Petri der scheue Papst Paul VI.

Textfeld:  Bild 18 Freude und Tragik der KennedysAn den 22. November 1963 kann sich jeder Mensch erinnern, an diesem Tag wurde das Idol der freien Welt, Präsident John Fritzgerald Kennedy im Alter von 46 Jahren erschossen. In der texanischen Stadt Dallas wird der 35. Präsident der Vereinigten Staaten ermordet. Die Ermordung des Präsidenten ist eines der spektakulärsten Verbrechen des 20.Jahrhunderts. Kennedy galt in der ganzen westlichen Welt als Hoffnungsträger in eine bessere Zukunft. Bis heute blieben die genauen Hintergründe des Attentats im Dunkeln.

An diesen Tagen, als uns der Fernseher die schrecklichen und traurigen Geschehnisse aus den USA und aus Washington in die heimischen Stuben trug, lag Trauer, Stillstand und tiefes Leid über Deutschland. An solchen Tagen erlag das Geschäftsleben, die Menschen zogen sich zurück. In der Schule sprachen wir mit Fräulein Wahler, die ihre Tränen kaum zurück halten konnte, über den schrecklichen Mord.

Nach dem unfassbaren plötzlichen Tod des überaus beliebten US-Präsidenten fühlten auch wir Kinder, dass eine Epoche zu Ende ging.

Ähnliche Stimmungen erlebte ich persönlich 1982, als die Fürstin von Monaco, die ehemalige Schauspielerin Grace Kelly, tödlich verunglückte. 1997 wiederholte sich eine gleiche Massentrauer, über Länder hinweg, als Diana, Prinzess of Wales, in Paris durch einen Autounfall um`s Leben kam.

Bis heute konnten die Unfälle nicht eindeutig geklärt werden.

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Bild 19:Alois Strasser, Chefmaskenbildner
In diesen Sommerferien sollte ich endlich den unbekannten Onkel Loisel in Berlin kennenlernen. Ich wusste aus Erzählungen, dass er Maskenbildner ist und die bekannten Schönen aus den Filmen geschminkt hat. Es war eine weite Reise, die ich mit meinen Eltern unternahm und an der Grenze wollte ich am liebsten wieder nachhause fahren. Menschenleer, bis auf mürrisch dreinblickende Grenzsoldaten an Stacheldrähten und hohen Wachtürmen sahen wir niemanden. Meine Eltern und  ich mussten aussteigen und die Uniformierten mit Maschinenpistolen stiegen in das nagelneue Auto, hielten Spiegel unter das Auto, montierten die Sitze heraus. Erstaunt sah ich zu und reagierte mit stiller Angst, als ich merkte, dass mein Vater in einer Baracke verschwunden war. Hoffentlich kommt er wieder, ich hatte wirklich Angst, kam mir verloren und verlassen vor, richtig zwischen den Grenzen zweier Länder.

Als wir endlich weiterfahren konnten, in einen Stadtteil von Berlin waren wir so gut wie alleine auf der Straße. Ich registrierte die verwunderten Blicke der wenigen Passanten und dachte, dass in München wesentlich mehr Autos fuhren und vor allem viel mehr Leute auf der Straße sind.

Meine Tante und mein Onkel erwarteten uns schon sehnsüchtig, sie hatten keine Kinder, aber einen Hund. Hinter ihrer Wohnungstüre hing ein dicker Teppich. „Niemand soll hören, was wir hier sprechen“, sagte mir der Onkel. Wir fuhren zum Brandenburger Tor, alles war trist und grau, ich war froh, als wir am Abend in den Westen zurück fuhren und erst am anderen Tag nochmal in den Osten. Wieder diese unheimlichen Vorgänge an der Grenze, das Warten auf den Vater!

Da gefiel mir der Übergang nach Österreich schon viel besser, die Grenzer waren lustig und wir mussten nie aussteigen!

Der Freund meines Vaters, Josef Schels, der zugleich unser Nachbar war, hatte ein großes Hobby, das Fliegen. Diese Leidenschaft teilten sich mein Vater und Sepp, wie er genannt wurde. Bereits 1962 durfte ich mit an Bord. Von Neubiberg aus und später von Eichstätt aus, stiegen wir in die Lüfte und ich lernte die Welt von oben kennen.

Im zweiten Schuljahr kratzten wir noch immer auf der Schiefertafel, waren aber immerhin in der Hierarchie nach oben geklettert. Wir saßen nun „hinten“ im Klassenraum, vor uns hatten die Erstklässler Platz genommen. Unser Blick richtete sich nach vorn, in ein bedeutendes Jahr: wir werden die dritte Klasse bereits im neuen Schulhaus erleben und eine Turnhalle haben. Außerdem waren wir im nächsten Jahr Kommunionkinder. Das bedeutet, dass der Herr Pfarrer den Religionsunterricht bei uns hielt. Ob ich mich darüber freuen sollte, wusste ich nicht wirklich. Der Pfarrer war teilweise gefürchtet, er verteilte allzugerne „Watschn“.

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Bild 20:Das neue Schulhaus steht!
Er wohnte in einem wunderschönen Pfarrhof, mit seiner Haushälterin, der freundlichen Resi. Resi liebte ich ganz besonders. Sie war eine begnadete Sängerin, eine fantastische Organistin. Heute kann ich mir nicht erklären, warum diese begabte Frau sich nicht musikalisch ausbilden ließ, sondern bei dem cholerischen Pfarrer blieb und ihm ohne offensichtliche Klagen den Haushalt führte. Als eine unheilbare Krankheit nach unserem Pfarrherrn griff und ihn auch noch erblinden ließ, „lieh“ sie ihm ihre Augen, sie ging mit ihm spazieren und pflegte ihn aufopfernd bis zu seinem Tod.

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Bild 21: Nordsee
In den Wintermonaten war ich viel krank. Hustenanfälle quälten mich und Erkältungen fesselten mich an`s Bett. Erst ein HNO-Arzt in München konnte die richtige Diagnose stellen: Vereiterte Nebenhöhlen. Eine für mich äußerst schmerzhafte Prozedur begann, die Nebenhöhlen wurden in regelmäßigen Zeitabständen gespült. An manchen Tagen holte mich mein Vater aus dem Unterricht, um mich in die Praxis am Ostbahnhof zu fahren. Fräulein Wahler hatte dafür Verständnis und wünschte mir immer alles Gute.

In den Sommermonaten sollte ich zur Erholung an die Nordsee, in ein Kinderheim und das die ganze Ferienzeit, also sechs lange Wochen.

„Ich will da nicht alleine hin“, jammerte ich „alle meine Freundinnen sind hier, dort kenn´ ich keinen Menschen“. Mir war wirklich zum Heulen zumute. Was wusste ich schon von der Nordsee, von Hamburg; das waren Namen, aber mehr auch nicht. Dann war das auch noch 1.000 Kilometer entfernt und Berge hatten die auch keine. Es kamen Prospekte in`s Haus geflattert, die zeigten rote Häuser und viele freundlich Gesichter von Betreuerinnen und glücklichen Kindern.

Ich blieb skeptisch! Irgendwie fiel dann die Entscheidung, dass es ein Familienurlaub werden sollte. Anfang der Ferienzeit starteten mein Vater und ich zu einem vierwöchigen Aufenthalt nach St. Peter Ording, also ziemlich hoch im Norden. Ich saß im neuen Opel Kadett, hatte den Autoatlas auf dem Schoss liegen und wir beide machten uns auf den Weg. Sehr gut kann ich mich noch an die Stadt Würzburg erinnern, die wir über Landstraßen erreichten, denn es gab mindestens bis Würzburg keine Autobahn. Etwa in Hannover übernachteten wir und am anderen Morgen sollte ich in einer Bäckerei Semmeln kaufen. Wie ich es in Anzing auch tat, sagte ich, was ich wollte. Außer erstaunten Augen bekam ich nichts. Ich stürzte aus dem Laden und klagte meinem Vater mein Leid. Er konnte damit umgehen und ermunterte mich es nochmal zu versuchen: „Du musst Brötchen verlangen, keine Semmeln“.

In Hamburg besuchten wir zwei Tanten meines Vaters. Beide waren Seemannswitwen und wir wurden freundlich aufgenommen. Unsere Fahrt ging weiter, bis St. Peter Ording. Damals noch lange nicht so mondän wie heute. Mich faszinierte der Leuchtturm und die tosende Nordsee, die sich hier so ganz anders präsentierte, als wie die Adria in Jugoslawien.

Mein Vater hatte uns bei einer Familie eingebucht, wir waren in das Familienleben integriert.

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Bild 22: Mein Vater auf dem Deich
In der Familie gab es ein lebhaftes Mädchen, etwa in meinem Alter und sie begleitete uns gerne an den Strand. Ich verbrachte viel Zeit am Meer, der Sommer war traumhaft und die neue Freundin baute mit Hingabe und großem Geschick mit mir Strandburgen. Eine Schifffahrt zur roten Insel, Helgoland, stand auch auf dem Programm. An diesem Tag war es sehr windig, viele auf dem Schiff hatten mit Übelkeit zu kämpfen. Nach einem Monat fiel mir der Abschied nicht leicht – leider haben wir die Familie nie mehr wiedergesehen.

Nun war es endlich fertig, das neue Schulhaus, wie freute ich mich darüber. Mit einem feierlichen Gottesdienst und einem Einzug der gesamten Schulkinder wurde der Unterricht begonnen.

Gleich im Erdgeschoss, zweite Türe links, befand sich unser Klassenzimmer. Ab sofort gehörte ich wieder zu den „Kleinen“, denn nun waren die Viertklässler wieder mit uns in einem Klassenzimmer, mit einer Lehrkraft, Fräulein Sophie Haimerl.

Sophie Haimerl war gefürchtet und sie machte ihrem Ruf alle Ehre. Die Lehrerin hatte sofort Kinder „auf dem Kicker“, die sie ganz offensichtlich nicht mochte und das liess sie die immer spüren. Wir hatten Mitschüler, die sich im Lernen nicht leicht taten. Dazu zählten Buben, die eine Klasse zu wiederholen hatten und wir hatten Mitschülerinnen, die sich nicht uneingeschränkt bewegen konnten. Mit Renate ging Sophie Haimerl ganz gut um, sie akzeptierte die Querschnittslähmung, aber andere hatten viel unter dieser Lehrerin zu leiden.

„Merke dir“, sagte Fräulein Haimerl zu mir „Nikolaus und Schokolade schreibt mir nur mit „k“, nicht mit „ck!“. Sie schrie selten, sie sprach gefährlich leise, das hätte mir schon gereicht. Aber mit jedem Wort, das sie zu mir sagte, stach sie mich zusätzlich mit dem großen, spitz zulaufenden Zeigestock in den Fuß, das trieb mir fast die Tränen in die Augen und ich wagte nicht, den Fuß wegzudrehen.

„Machen sie gefälligst andere Arzttermine aus“, bellte sie meinen Vater an, als er ihr mitteilte, dass ich zum HNO nach München muss. „Ich werde mich danach richten, aber jetzt nehme ich meine Tochter mit“, erwiderte er ihr und wir machten uns eiligst aus dem Staub.

In diesem Schuljahr hatte ich viel in die Kirche zu gehen, schließlich war ich ein Kommunionkind.

Wir hatten keinen Kommunionunterricht, so wie ich ihn fünfundzwanzig Jahre später kennenlernte, als meine eigenen Töchter Kommunionkinder waren. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie der Unterricht genau ablief. Wir lasen in der Religionsstunde im Katechismus, das war`s. Bereits damals erkrankte unser Pfarrer und Patres und andere Geistliche kamen abwechselnd nach Anzing.

Unabdingbar vor dem Weg zur Hl. Erstkommunion war der Weg in den Beichtstuhl. Es gab für uns Kinder keinen Zweifel, wir waren alle kleine Sünderlein! Deshalb ging kein Weg an der Ohrenbeichte vorbei.

Es war soweit: Alle künftigen Erstkommunionkinder hatten sich in der wunderschönen Wallfahrtskirche „Mariä Geburt“ am Nachmittag, zur Beichte einzufinden. Spärlich vorbereitet und mit klopfendem Herzen machte ich mich auf den kurzen Weg. Ich hatte das Gefühl, alle, die mir begegneten, sahen mir an der Nasenspitze meine Sünden an. Es war gut, vor der Kirche Mitschülerinnen zu treffen, die den gleichen unbekannten Gang vor sich hatten. Fest pressten wir den Gottesdienst unter den Arm, denn darin hatten wir unsere „Sünden“ angekreuzelt. Im Beichtspiegel hieß es so passend: tägliche Gebete ausgelassen, schlecht gebetet?

Oder die Nächstenliebe: auf andere böse gewesen? Anderen Schimpfnamen gegeben? Andere zur Sünde verführt – zu welcher? Dann die Sache mit der Keuschheit: Unschamhaft gewesen?

Unter der Rubrik: Selbstbeherrschung (Wurzelsünden) standen folgende Worte: hochmütig, neidig, faul gewesen?

Kurz und gut, es war für uns Kinder schwierig, mit dem Beichtspiegel umzugehen. Welches Kind war nicht zornig, faul, und wer hat nicht am Freitag Fleisch gegessen? Wir hätten einen fähigen Religionslehrer gebraucht, der uns ermutigt hätte, positiv zu denken. Es war aber in diesen Jahren für die Erwachsenen, die fast alle den unseligen Krieg miterlebt hatten und die Geschehnisse aufarbeiten mussten, schwierig, Kinder zu selbstständigen Menschen zu erziehen.

So war es für uns Kinder eigentlich auch sehr einfach, zu beichten: Wir lasen im Beichtstuhl den ganzen, vorgedruckten Beichtspiegel ab, so wie er im Gottesdienst stand.

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Bild 23: Kommunion Anzing 1965
Der Pfarrer saß da, tat so, als ob er uns nicht kennen würde und gab meistens ein, zwei oder drei Vaterunser auf, die wir zur Buße zu beten hatten. Je nach „Vergehen“ hatten wir Buße zu tun. Heute frage mich ernsthaft, was damals alles im Beichtstuhl, unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten und verkauft wurde. Der Pfarrer war mit Sicherheit der bestinformierte Mensch in der Gemeinde.

Ich war immer froh, wenn die Ohrenbeichte vorüber war und sehr bestrebt, zukünftig nicht zu „sündigen“, deshalb nicht, damit ich nicht mehr zum Beichten gehen muss.

Am 09. Mai 1965 war es soweit; im schneeweißen, kurzen Kommunionkleid feierten wir mit Eltern, Großeltern und allen Verwandten den großen Tag der Erstkommunion. An diesen strahlend schönen Muttertagssonntag kann ich mich noch gut erinnern, wir waren alle ganz stolz.

Pünktlich um 14:00 Uhr war die Nachmittagandacht der Kommunionkinder, wir durften alle ganz nahe am Altar sein, das war ein Novum! Ich durfte die Nachmittagandacht lesen und machte es ganz gut, bis auf die vorletzte Zeile, die ließ ich nämlich aus. Ich glaube nicht, dass es viele bemerkten; aber ein aufmerksamer Onkel aus Landshut sprach mich beim anschließenden Kaffeetrinken auf den Fehler an!

Ab diesem Zeitpunkt durften wir stolze „Drittklässler“ in den seitlichen Chorstühlen des Altarraumes Platz nehmen. Links die Mädchen, rechts die Buben; das führte manchmal zu Irritationen, man grinste sich an, ein Kichern war lauter als erwartet und der Pfarrer verpasste dem eben noch lachenden Buben eine „Watschn“. Das ging so schnell, dass der Bub nur noch heulend sein Taschentuch aus dem Hosensack ziehen konnte und still in das Tuch weinte.

Jeden Freitag hatten die Schulkinder den Schulgottesdienst zu besuchen, da gab es kein wenn und aber, da mussten alle hin. Der Gottesdienst war schnell vorüber, danach gings zur Sache.

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Bild 24: Spaziergang Anzing 1965
Nach dem Gottesdienst setzten sich alle acht Klassen still in den Bänken zurück und warteten auf den Herrn Pfarrer. Er kam, meistens mit rotem Kopf und hochcholerisch. Nun rief er Kinder auf, die das Vaterunser aufsagen mussten, die Gesetze des Rosenkranzes vortragen mussten, oder, schlimmstenfalls ein Lied vorsingen mussten. Er stellte auch Fragen in das Kirchenschiff und wehe, wehe, die Antwort kam nicht oder war falsch! Der Pfarrer konnte so fuchsteufelswild werden, dass die Fetzen flogen. In so einem Augenblick eilte meistens die gute Resi herbei und übernahm das Singen, das schien den Pfarrer zu beruhigen. Ich glaube, dass alle Schüler heilfroh waren, den restlichen Freitag in der Schule verbringen zu dürfen.

Tapfer marschierten wir alle den Anzinger Fußweg entlang, zur neuen Schule und in das Klassenzimmer zu Frl. Haimerl! Es gab noch dieses und jenes Erlebnis, mit der unbeliebten Lehrerin. Das Jahr verging jedoch wie im Fluge und die Fronleichnamsprozession stand vor der Türe. Nocheinmal wurde das weiße Kommunionkleid angezogen und die Erstkommunionkinder hatten die Ehre, die Prozession unter dem „Himmel“ zu begleiten. Mit der Monstranz ging der Pfarrer in der Mitte der Prozession, über ihm wurde der „Himmel“ von vier Männern getragen.

Blumenstreuend begleiten die Mädchen den feierlichen Umzug, der durch das ganze Dorf führt.

In meiner Kindheit war es fast immer ein sonniger Mai oder Junitag und zur Ehre Gottes haben viele fleißige Frauen wundervolle Altäre entlang der Dorfstraße errichtet. Diese Altäre waren beeindruckend und ein wahres Blumenmeer; vor ihnen wurde gesungen und gebetet, es war ein großer Tag in der Dorfgeschichte.

In diese Zeit fielen vermehrt Ausflüge, die mich „in die Luft gehen ließen“. Wie bereits erwähnt, hatte mein Vater von Kindesbeinen an ein großes Hobby: das Fliegen. Zusammen mit seinem Freund, Nachbarn und Kollegen verwirklichte er sich diesen Traum. Von Neubiberg aus unternahmen die beiden Luftausflüge in die Berge und nach Anzing. Unzählige wunderschöne Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeugen von diesen Ausflügen. Ich flog ganz gerne mal mit, bereits als Kind, aber es entwickelte sich bei mir keine Leidenschaft. In späteren Jahren wurden Josef Schels und mein Vater Mitglieder im Flugverein in Eichstätt. Es waren für die beiden wunderschöne Jahre. Josef Schels verstarb 2001 in seiner Heimat Tirschenreuth, mein Vater verstarb 2005 in Anzing.

Es war ebenfalls ein sehr sonniger Tag, als ich erfuhr, dass „wir“ bereits in der vierten Klasse Frau Lehrer Meyer bekommen sollten. Keiner weinte Fräulein Haimerl auch nur eine Träne nach. Wir wussten obendrein, dass Frau Lehrer Meyer die „großen“ Kinder unterrichtet und nun war es soweit, wir sollten also sie als Lehrerin bekommen.

Im Klassenraum zählten wir wie gehabt zu den „Kleinen“, das bedeutete „vorn“ sitzen, denn die Fünftklässler, also die „Großen“ hatten immer im hinteren Teil des Klassenraumes zu sitzen.

An die Rolle der „Kleinen“ im Raum waren wir nun wirklich gewöhnt, diese Rolle hatte mein Jahrgang  fast alle Volksschuljahre inne.

Frau Lehrer Meyer war grundsätzlich beliebt, sie hatte jedoch eine sehr laute Stimme, die sie unermüdlich einsetzte. Alle Schüler hörten sie durch das Schulhaus; wenn sie die Stimme erhob, hörten sie meine Mutter und Großeltern, bei uns zuhause.

Ich hatte meinen Platz neben Renate, aber zur Halbzeit, also im Februar wurde gewechselt. Ich weiß nicht mehr, neben wem ich dann saß, vielleicht neben meiner Freundin Dora. Vom vierten Schuljahr habe ich nicht mehr viele Einzelheiten in Erinnerung.

Gleich zu Beginn fiel mir auf, dass einige vertraute Gesichter aus der fünften Klasse fehlten:

Peppi und Matthias sind in das Bubeninternat nach Schäftlarn gekommen, sie haben in die Oberschule gewechselt. Peppis Zeichnungen vermisste ich; da er sehr gescheit war, musste er immer wieder an die große Tafel kommen und etwas aufschreiben, vorrechnen oder malen. Ich habe ihn insgeheim beneidet, wenn er so wunderschöne Bauernhöfe an die Tafel malte.

Wir wurden in dem Fach Heimatkunde unterrichtet. Dazu stand einmal eine Wanderung in den Ebersberger Forst auf der Schulordnung. Bei Oberasbach gab es einen Tümpel, in dem Kaulquappen schwammen. Ich war begeistert. In meiner Plastiktüte, in der mein Pausenbrot war, transportierte ich mehrere Kaulquappen nachhause.

Ein besonderes Highlight in unserem Schülerleben war das Sportfest zum Schuljahresende.

Heuer waren die sportlichen Aktivitäten in Parsdorf angesagt. Ich freute mich sehr, denn wir radelten in den Nachbarort. Mit Susi machte ich mich auf den Weg und die Wettkämpfe erfreuten uns. Es handelte sich um drei Disziplinen: Wettlauf, Weitsprung und Weitwurf. Der Lauf und der Sprung waren immer gut für mich, der Wurf misslang mir durchaus auch einmal. Susi und ich standen vor dem Sprung an, als sie plötzlich aufschrie. Bienen oder Wespen stachen sie in den Kopf, sie hingen in ihrem dunklen Haarschopf. Mich durchzuckte im gleichen Augenblick auch ein Schmerz, der vom Oberarm herrührte, dort wurde ich gestochen. Durch die Stiche war unsere Begeisterung ordentlich gedämpft, aber wir bekamen tags darauf eine Urkunde überreicht.

„Kommst du heute mit zum Baden, nach Markt-Schwaben?“ fragten mich meine Freundinnen aus der Frühlingstraße. Natürlich war ich mit dabei; ich war viel unterwegs und das herrliche Wetter lockte an den Weiher.

In den Sommerferien sollte ich mit meinen Eltern nach Südtirol, in die Stadt Meran fahren. Eine Woche wollten wir dort bleiben und ich freute mich auf die Tage. Tanten und Onkel aus Landshut, sowie mein Cousin und meine Cousine seien auch dort und ich freute mich auf die unterhaltsamen Urlaubstage. Es war eine schöne Ferienwoche, in dem Dorf Tirol. Damals war es weit weniger bekannt, als wie heute. Es war unglaublich warm und die Obstplantagen und die Weinhänge gefielen mir. Bei der Apfelernte waren wir alle mit von der Partie; ich durfte in hohe Bäume klettern und holte stolz rote Äpfel herunter.

Meine Eltern unternahmen mit mir Ausflüge nach Kaltern, in dem gleichnamigen See schwammen wir. Das Stilfser Joch wurde befahren und ich fand es sehr lustig, im August einen Schneeball zu formen.

In der fünften Klasse unterrichtete uns nach wie vor Frau Lehrer Meyer und ich lernte ganz gerne. Leider habe ich keine Schulhefte mehr, die unmittelbaren Einblick in diese Jahre gewähren. In unserer Klasse „fehlten“ nun auch einige Buben und ein Mädchen. Sie waren in die Oberschule gewechselt. Ich sollte nach der sechsten Klasse in die Mittelschule, nach Erding, Hl. Blut wechseln. Da es damals ein großes Unternehmen war, nach Erding zu kommen, sollte ich in das Mädcheninternat kommen. Ich war erst mal skeptisch, noch war Zeit, darüber nachzudenken.

Noch konnte ich in Anzing eine unbeschwerte Kindheit erleben.

Jetzt hatten wir am Nachmittag Handarbeitsunterricht, bei Fräulein Weichsler. Das gefiel mir gar nicht. Ich war ein aufgewecktes Mädchen, das nicht besonders gerne strickte, stickte, häkelte.

Ich wollte lieber mit den Rollschuhen fahren, Völkerballspielen, radeln, mich bewegen.

Sehr gerne ging ich mit Freundinnen in das „hintere“ Dorf, auf den Sportplatz. Der Platz ist schon lange Wohnblocks gewichen. Damals war der Sportplatz herrlich geeignet um Völkerballspiele auszutragen. Mit größeren Mädchen maß ich mich gerne und meine Fangtechnik und die Wurftechnik waren gefürchtet.

Nun musste ich einmal in der Woche am Nachmittag in die Schule gehen und handarbeiten. Fräulein Weichsler sah mir meine Unlust an. „Du sollst nicht so fest stricken, man kann die Nadeln gar nicht mehr schieben“, sagte sie vorwurfsvoll zu mir. Es quietschte und ich hatte wirklich die größten Probleme, meine Maschen aufzunehmen. Fräulein Weichsler verließ ihr Pult und machte sich auf den Weg zu meinem Platz, sie hatte mich fest im Blick. Mein Handarbeitskorb hing an meinem Schultisch, am Außenhaken. Fräulein Weichsler ging so haarscharf an meinem Korb vorbei, dass sie daran hängen blieb. Ich weiss auch nicht, wie diese unbeholfene Lehrerin es fertig brachte, sich an dem Korb den Strumpf zu zerreißen. Sie machte mich für ihr Missgeschick verantwortlich; ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte. Zuhause berichtete ich nichts von dem Vorfall. Seitdem war das Verhältnis zur Hauswirtschaftslehrerin deutlich getrübt. Ich strickte immer fest, zugegeben manchmal zu fest, aber dies ergab letztendlich ein sehr einheitliches, schönes Gesamtergebnis; es half nichts, Fräulein Weichsler hatte sich an meinem Handarbeitskorb den Seidenstrumpf zerrissen und ich hatte im Handarbeiten meine Note 3!

Als ich die fünfte Klasse besuchte, war der Schulhof bereits geteert, ein kleines Paradies zum Rollschuhlaufen eröffnete sich mir unmittelbar vor der Haustüre. Mit den Freundinnen aus Kindergartentagen verbrachte ich viel Zeit auf dem neuwertigen Teer und wir starteten in selbst ausgerichtete Wettläufe. Wieder war es Fräulein Weichsler, die mir und auch meinen Freundinnen manchmal die Freude am Spiel verdarb! Im Keller des Schulgebäudes war die Küche untergebracht und die Achtklassmädchen wurden im Kochen von ihr unterrichtet. Wenn nun im Schulhof gespielt wurde, was auch immer, fühlte sich die Lehrkraft gestört. Also: Auf zum alten Sportplatz, dort störten oder belästigten wir niemanden!

Zu meiner ganz großen Freude erlaubte die Gemeinde und natürlich „unser“ Hauptlehrer Pöller einem kleinen Zirkus, der lediglich aus ein paar Ponys bestand, ein paar Tage, vielleicht auch eine Woche hinter der Schule zu verweilen. Meine Eltern und meine Großeltern gaben mir die nötigen Groschen, um mit dem Pony reiten zu können. Ebenso schleppte ich Äpfel, Gelbe Rüben und einfach alles, was ich tragen konnte zu dem winzig-kleinen Unternehmen.

Gegen Ende der fünften Klasse erfuhren wir, dass wir im folgenden Schuljahr von Herrn Hauptlehrer Pöller unterrichtet werden sollen. Ich kannte ihn, vom täglichen Schulbetrieb und wusste, dass auch die „großen“ Buben Respekt vor dem „kleinen“ Hauptlehrer haben.

Mir war`s recht, konnte ich sowieso nichts dagegen unternehmen.

In den Ferien begleitete mich meine Freundin Dora mit in den geplanten Familienurlaub in die Schweiz, in das Säntisgebiet. Ich freute mich sehr darauf und es sollten unbeschreiblich schöne, sonnige Urlaubstage werden. Mit einer Bergführerin stiegen wir zum Gipfel des Bergmassives und wir sahen hautnah Murmeltiere und Steinböcke. Die An- und Rückreise führte über den Bodensee.

Es sollte eine Liebe für`s ganze Leben werden. Jahrzehnte später wurde mein Mann für zwei Jahre an den Bodensee versetzt, in diesen Jahren hatte ich die Gelegenheit, den traumhaften See, der an drei Länder grenzt, gut kennenzulernen. Besonders faszinierte mich die Insel Mainau. Als ich an einem herrlichen Novembertag die Stille und die herbstliche Vegetation auf der Insel genoss, begegnete mir Königin Silvia mit ihren Bodyguards.

Ende Oktober 1966 feierte mein Großvater seinen 80.ten Geburtstag. Die Großeltern lebten mit uns im Einfamilienhaus und so wurde sein Geburtstag in Anzing gefeiert. Damals war es noch wesentlich seltener, als wie heute, dass Menschen den 80. Geburtstag erleben. Der Bruder meiner Mutter, der mit meiner Tante und den beiden Cousin in Fürstenfeldbruck lebt, kam und auch Verwandtschaft aus Berchtesgaden, dort ist mein Großvater aufgewachsen.

Nach den sechswöchigen Ferien, als der Herbst schon wieder Einzug gehalten hatte, ging ich mit meinem braunen Lederranzen den vertrauten, kurzen Weg zum Schulgebäude. Herr Hauptlehrer Thomas Pöller erwartete uns am Portal und führte uns in das Klassenzimmer, von dem wir schon wussten, dass wir dort das restliche Kalenderjahr 1967 und sieben Monate des Jahres 1968 verbringen werden. Ich freute mich, erst mal war alles wie gehabt: „wir“ sind wie (fast) immer die „Kleinen“, es ehrte mich, mit den Kindern, die 1954 geboren wurden, den Raum und die Lehrkraft zu teilen, die „55-er“ kannte ich bereits recht gut und „wir“ „56-er“ hatten einen neuen Buben bekommen.

Von nun an saß ich am Vierertisch, mit Heidi, Brigitte und Karin. Wir sollten ein ausgesprochen gutes Team werden, die Nachmittage verbrachten wir jedoch so gut wie nie gemeinsam. Nach wie vor war ich sehr viel mit meinem Rad unterwegs. Ich unternahm auch ganz gerne mal „Botenfahrten“, so z. B. um für meine Großmutter Weihwasser zu holen. Munter radelte ich Richtung Kirche, ich wußte, wo ich das Weihwasser zu holen hatte. Als ich auf der Poinger Straße war, war ich auf gleicher Höhe mit einem Bus, eines Markt-Schwabener Unternehmens. Ich war schnell, zeitgleich stoppten der Bus und ich am Kircheneck. Ich wollte die Straße überqueren, der Bus bog nach rechts ab. Der Bus und ich trafen sich in der Mitte der Straße, im letzten Augenblick sprang ich vom Rad, dann wurde mein geliebtes feuerrotes Rad von einem großen Busrad zermalmt. Wie gebannt stand ich auf dem Gehweg, Metzger Stadler und seine Frau kamen aus dem Laden gerannt und fragten mich, ob mir auch wirklich nichts passiert sei – ich verneinte; aber ich weinte vor Schreck und ich weinte um mein Fahrrad. Nie wieder schickte mich jemand aus der Familie um Weihwasser zu holen!

Als Elfjährige waren wir schon gut informiert, was die Welt so bewegte, die Fernseher trugen uns alles in die gute Stube. Natürlich war die Berichterstattung nicht so bunt und schillernd, wie jetzt, aber wir waren durch die Flimmerkisten dem Geschehen sehr nahe. Die Regenbogenpresse blühte und als sich der Schah von Persien selbst krönte und auch seine schöne dritte Frau, Farah Diba krönte, war der Pfauenthron in aller Munde. Kurz vorher entstand ein Mythos. Che Guevara sei bei einem Gefecht zwischen bolivianischen Regierungstruppen und Rebellen um`s Leben gekommen.

Als „Bürgerschreck aus Berlin“ ist Rudi Dutschke bekannt. Am 02.06.1967 kommt es in Berlin zu heftigen und gewalttätigen Demonstrationen anlässlich des Staatsbesuches von Mohammad Resa Pahlawi des Iran und seiner Frau. Benno Ohnesorg wird erschossen. Ohnesorgs Tod hat Konsequenzen: Die Studenten entfremden sich dem Staat und viele rücken weit nach „links“.

Eine kleine Gruppe entwickelt sich zu den Terroristen der späteren „Rote Armee Fraktion“ (RAF) und der Bewegung 02. Juni.

Am 03. Dezember des Jahres 1967 gelingt dem Starchirurgen Christiaan Barnard erstmals eine Herztransplantation von Mensch zu Mensch.

Von dem „Aufklärungsfilm“ Helga bekam ich gar nichts mit. Es war der erste abendländische Aufklärungsfilm in den deutschen Kinos. Bei der Aufführung fallen reihenweise Männer in Ohnmacht, sie konnten die zehnminütige Darstellung einer Geburt nicht verkraften.

Es waren sehr bewegte Zeiten, die natürlich bis zu unserem beschaulichen Dorf drangen. Es herrschte jedoch eine gesunde Aufbruchstimmung, überall war Leben auf den Straßen, in den Geschäften, alleine vier Schreinereien hatten in Anzing volles Arbeitspensum.

Und wieder blickt die Welt nach Amerika: Am 04. April 1968 wird der Prediger der Gewaltlosigkeit, Martin Luther King, in Memphis Opfer eines Attentats. Die Hintergründe dieser Tat werden nie ganz aufgeklärt. Wie fünf Jahre zuvor, beim Mord an John F. Kennedy stoßen die Ermittler auf ein Netz von Ungereimtheiten.

In Amerika wird nach dem brutalen Mord eine Welle der Gewalt befürchtet. Seinen gewaltlosen Kampf gegen die Unterdrückung der Schwarzen krönte Martin Luther King mit der legendären Rede im Jahre 1963:„I have a dream“,

Die Tragödie der „Königsfamilie“ der USA, der Kennedys, setzt sich fort: Wenige Minuten nach seinem Sieg bei den Vorwahlen zur Präsidentschaftskandidatur fällt auch der US-Senator Robert F. Kennedy in Los Angelos einem Attentat zum Opfer. Trotz einer Notoperation stirbt der Politiker. Mit ihm stirbt ein Idol des jungen Amerika.

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Bild 25: Robert F. Kennedy Pause im Wahlkampf
Am 20. August 1968 walzen Sowjetische Panzer den Prager Frühling nieder. Mit ihrem Einmarsch in die Tschechoslowakei beendet die Sowjetunion den sog. Prager Frühling. 50 Menschen sterben bei der Besetzung ihres Landes. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei wird von der Weltöffentlichkeit fast einhellig verurteilt.

Gegen jede künstliche Geburtenregelung spricht sich Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Humanae vitae“ aus. Die Schrift richtet sich vor allem gegen die Antibabypille. Heftige Kritik kommt aus zahlreichen Ländern, darunter auch Deutschland und viele Dritte-Welt-Staaten. Priester und Theologen treten von ihren Ämtern zurück, Kirchenaustritte häufen sich. Seine Entscheidung traf der Papst gegen die Empfehlungen der von seinem Vorgänger eingesetzten Fachkommission.

In diesen bewegten Zeiten stellte die Ruhe in Anzing geradezu eine Oase für mich dar. Meine kleine Welt war noch immer in Ordnung. Die Mittelschule und das dazugehörende Internat, in das ich im kommenden Herbst wechseln sollte, war noch relativ weit weg. Ich brauchte nicht alleine nach Erding zu gehen,meine Banknachbarin sollte mich begleiten. Rasch gewöhnte ich mich an den Gedanken und das Neue, das auf mich wartete, machte mich neugierig.

Zunächst fühlte ich mich jedoch in meiner Freiheit erneut beschnitten. Die Eltern, die beabsichtigten, ihre Kinder auf eine weiterführende Schule zu schicken, machten sich Sorgen, dass die Kinder die Aufnahmeprüfung, die damals für jede Schülerin Pflicht war, nicht bestehen könnten. Karin und ich wurden wegen dem Aufnahmeverfahren nach Erding, in die Mittelschule gefahren.

Hauptlehrer Pöller unterstrich den Wunsch der Eltern mit einem nachmittäglichen Förderunterricht, der sich auf Mathematik und Deutsch bezog, in diesen Fächern wurde eine Aufnahmeprüfung verlangt. Dazu mussten wir ein Förderbuch kaufen, es hatte einen hässlichen braunen Einband und es standen zahlreiche Textaufgaben drin. Aufsätze schrieb ich lieber und so manches mal wurde mein Aufsatz vorgelesen.

Anfang Mai wurde Bettwäsche und ein kleines Köfferchen samt Schulranzen gepackt und mein Vater fuhr Karin und mich nach Erding, Hl. Blut. Natürlich waren wir aufgeregt und die freundliche Pfortenschwester beschwichtigte uns. Ich sah sofort die vielen Vögel in dem herrlichen Wintergarten, die von Sr. Lauretta liebevoll gepflegt wurden. Karin und ich wurden in das Heimzimmer von Sr. Regiswinda geführt und die fürsorgliche Nonne betreute uns gut.

Zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass diese ältere Schwester, sollten wir das Aufnahmeverfahren bestehen, leider nicht unsere Heimschwester werden sollte. Sr. Gundegard würde unsere Heimschwester werden, es war diese junge, schlanke, große Nonne, die uns damals jedoch keines Blickes würdigte. Sie hatte die Abschlussklasse, die mitten in den Prüfungen stand, zu betreuen. Es waren Mädchen des Jahrgangs 1952, zu denen Sr. Gundegard eine sehr herzliche Beziehung entwickelt hatte. Leider war es unserem Jahrgang nicht vergönnt, zu Sr. Gundegard ein herzliches Verhältnis zu entwickeln, das zeigt sich unter anderem darin, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten niemals zu einem Klassentreffen kam.

Von diesen Missstimmungen ahnten wir damals noch nichts. Ich war aufgeweckt und genoss das neue Leben. Den anderen Mädchen schien es ähnlich zu ergehen, sie gefielen mir und das Leben zu viert, auf einem Zimmer, war eine völlig neue Erfahrung für mich.

Mit Monika, Isolde und Karin verstand ich mich gut, wir belegten ein Zimmer und äußerten übereinstimmend den Wunsch, nach den Sommerferien, also zu Beginn unserer Internatszeit wieder zusammen einen Raum zu beziehen. Leider wurde nichts draus.

Zunächst ging es in mein Heimatdorf zurück und ein wunderschöner Frühling ging in einen herrlichen Sommer über. Im Klassenzimmer gab es kaum Probleme, sofern ich mich erinnern kann, gab es wenig Konfliktstoffe. Sicher rauften die Buben mal ordentlich, aber danach war`s gut. Wenn einer der Kampfhähne aufgab, sprich am Boden lag, war der Sieger fair genug, nicht nochmal draufzutreten. Ich kann mich noch an einen etwas auffälligeren Buben erinnern, Jahrgang 1955, der ständig in Raufereien verwickelt war. Einmal verprügelte er einen Mitschüler unmittelbar vor unserer Hofeinfahrt. Mein Vater ging auf die Streithähne zu, packte beide am Kragen und ermahnte sie nachdrücklich, nun mit der Schlägerei aufzuhören. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wann ich den aggressiven Buben das letzte Mal sah, er war dann irgendwie aus Anzing verschwunden. Viele Jahre später hörte ich, er sei in einen Raubüberfall verwickelt gewesen, hätte eine Gefängnisstrafe verbüßt, aber nun würde er ein „anständiges“ Leben führen – wollen wir es hoffen!

Die Jahrgänge vor uns waren nun in der Pubertät und auch wir zogen deutlich nach. Unter den Mädchen gab es viel zu kichern und zu tuscheln, Hauptlehrer Pöller übersah, was nicht direkt störte. Die Buben machen im Vergleich zu den Mädchen in diesem Alter noch einen sehr kindlichen Eindruck!

Erste zarte Bande wurden gesponnen und ich bekam von einem Achtklässler Buben einen Freundschaftsring geschenkt. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, mehr wie einen scheuen Blick hatten wir nie gewechselt, nie ein Wort miteinander gesprochen. Als ich von meinem Schulheft aufsah, hatte ich ihn (fast automatisch) im Blickfeld und er trug am heutigen Tag zwei Freundschaftsringe an zwei verschiedenen Fingern. Auf einen deutete er und mit einem verschmitzten Lächeln bekundete er mir, dass der eine Ring für mich bestimmt sei. Ich sah sofort weg, ich war beschämt. Natürlich hatten andere Mitschüler diese Szene mitbekommen und lächelten. Jedoch waren wir nie dem Gespött und der Lächerlichkeit preisgegeben, sollte Hauptlehrer Pöller von der „Romanze“ etwas mitbekommen haben, was ich sehr stark vermute, hat er sie geduldet.

Nach der Pause fand ich den Ring auf meinem Platz liegen, schnell steckte ich ihn in mein Federmäppchen. Heute weiß ich nicht mehr, was aus dem Ring geworden ist; leider habe ich ihn verloren.

Unbeschwerte Ferientage in Südtirol lagen vor mir und meiner Familie. In Dorf Tirol gab es ein Freibad, in dem hielt ich mich an den heißen Augusttagen sehr gerne auf.

Ich wusste, nach den Sommerferien erwartet mich ein neuer Lebensabschnitt. dem sah ich mit Freude und den natürlichen Erwartungen, die eine knapp Dreizehnjährige an das Leben stellt, entgegen.

Damals fiel es mir noch nicht auf, aber auf den alten Fotos ist es unverkennbar: Anzing wuchs und wuchs. Das Ortsbild veränderte sich, Siedlungen entstanden, bald wurden die Schulklassen einzeln unterrichtet. Anzing ist ein aufstrebendes Dorf geworden.

Ein neuer Pfarrherr hielt in den alten, ehrwürdigen Pfarrhof in Anzing Einzug. Vorher haben sich Dramen abgespielt; aber wir Kinder haben nicht viel mitbekommen. Vor dem jetzigen Pfarrer gab es bereits einen neuen Pfarrer für den Ort, dieser wählte den Freitod.

Der neue Pfarrer war selbstverständlich unser Religionslehrer. Leider änderte sich im Unterrichtsstil nichts, wir lasen eine Dreiviertelstunde lang abwechselnd im Katechismus, alle drei Klassen.

Diese katholischen Priester, unter denen einige der Schulkinder viel zu leiden hatten, hatten eine schwere Kriegsvergangenheit hinter sich. Sie wurden besonders gepeinigt und mussten besonders erniedrigende Dinge tun. Das ist selbstverständlich keine Entschuldigung, dass sie den ihnen anvertrauten Kindern so übel mitspielten. Ich möchte es jedoch in den Aufzeichnungen erwähnen.

Ich kann mich noch gut an einen Unterrichtstag mit unserem alten Pfarrer erinnern. Besonders cholerisch war er bereits viel zu spät erschienen, irgendetwas hatte ihm wohl gründlich die Laune verdorben. Ich kann nicht mehr schreiben welche Tatsache ihn zur Raserei brachte, jedenfalls packte er den Pultstuhl und schleuderte ihn gegen den Wandheizkörper. Wir waren wie gelähmt in den Bänken. Er tobte. Plötzlich erhob sich ein couragiertes Mädchen aus der Klasse vor uns und teilte dem erbosten Pfarrer mit, dass es sich diesen Ton und die Beleidigungen nicht länger bieten lassen würde. Mir blieb die Luft zum Atmen weg. Sie ging rasch zur Türe und ging nachhause.

Auch der Pfarrer verließ den Klassenraum und wir Schüler blieben völlig verdutzt zurück. Kurz darauf schrillte die Pausenglocke und wir machten uns auf den Weg nach draußen. Mit Renate stand ich am Treppenabsatz und unterhielt mich über die Vorfälle. Da tauchte der Pfarrer auf und rief mich zu sich. Ich war wie erstarrt, blieb einige Meter vor ihm stehen. Er stand vor dem Lehrerzimmer, in diesem Augenblick erschien der Hauptlehrer hinter ihm. „Was hast du gerade gesagt, Evi?“ wollte der Pfarrer wissen. „Ich würde sowas nicht machen, was gerade passiert ist“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich hatte viel zu viel Angst, welche Konsequenzen das im Elternhaus nach sich ziehen könnte. Heute gebe ich der Schülerin völlig Recht, sie war mutig und hatte den Rückhalt von ihren Eltern. In der damaligen Zeit war solch ein Verhalten eine Sensation! Der Hauptlehrer verschwand mit dem Pfarrer in dem Zimmer gleich rechts, nach dem Eingang. Ich weiß nicht, ob und welche Konsequenzen diese Story letztendlich nach sich zog.

Es waren so ziemlich die letzten Unterrichtsstunden mit diesem langjährigen Anzinger Pfarrherrn.

An den letzten Schultag kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Natürlich erhielten wir unsere Zeugnisse und mit Sicherheit gab uns Hauptlehrer Thomas Pöller gute Worte mit auf den Weg.

Seit diesen Tagen habe ich Heidi, die mir gegenüber saß nicht mehr wieder gesehen. Brigitte, die vierte im Bunde habe ich noch manchmal zufällig auf der Straße getroffen, wir fanden immer nette Worte füreinander. Brigitte verstarb im Alter von 36 Jahren.

In den mittlerweile vergangenen 37 Jahren hat es schon das ein oder andere Klassentreffen gegeben.

Ich freue mich immer sehr, aus den längst vergangenen Schultagen Freundinnen und Freunde zu treffen. Mit Renate, Dora, Margit und Ingrid habe ich schon Treffen organisiert.

Unser Jahrgang wird sich sicher in ein bzw. zwei Jahren, wenn wir alle die Festivitäten zu unseren 50. Geburtstagen gut überstanden haben, wieder sehen.