Wurstsemmeln aus Anzing

Es war soweit: Mit dem Bettzeug, einer bepackten Reisetasche, meinem Gottesdienst sowie dem ledernen Schulranzen machte ich mich mit meinen Eltern auf den Weg in`s Internat.

Sr. Gundegard nahm uns in Empfang und wies mir das Zimmer zu, in dem ich nun schlafen werde. Es war das vorletzte Zimmer auf einem langen Flur, unter uns befanden sich Schulräume. Meine Mutter half mir beim Bettenbeziehen und da kam auch schon ein anderes Mädchen mit ihrer Mama. „Ich bin `s Hannerl“ stellte sie sich bei mir und Karin vor. Unsere vierte im Bunde war Irmi, sie war auf einem großen Bauernhof, nahe bei Freising zuhause, Hannerl kam aus Marzling, das ist ebenfalls in der Nähe der ehrwürdigen Domstadt. Wir wurden ein ausgesprochen gutes Team, wir waren das einzige Zimmer, das über die vier Jahre zusammen blieb.

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Bild 26: Mädchenrealschule Hl. Blut
Einen Stock tiefer, in den Klostergebäuden, war unser Heimzimmer; dort verbrachten wir die meiste Zeit. Ein Röhrenradio durfte am Abend eingeschalten werden, ansonsten hatten wir viel Zeit um über den Büchern zu büffeln, oder wenigstens so zu tun, als täte man intensiv lernen.

Wir lernten auch gleich den Speisesaal kennen, in dem es nicht nur Leckereien gab. Wenigstens war die Küchenschwester, Sr. Eterna, sehr nett. Sr. Melanie war die Küchenchefin und sie kaufte auch immer mit Pater Bonfilius ein. Pater Bonfilius war unser Religionslehrer, wenigstens in der siebten Klasse. Er wohnte mit einem Mitbruder gleich gegenüber des Klosters und die beiden Patres lasen die Messe in der Klosterkirche.

Am Anfang war alles völlig neu für uns. Wir mussten uns kennenlernen, mit den Gegebenheiten des Klosters zurecht kommen und der Unterrichtsablauf war auch ganz anders, als wie in Anzing.

In der Jahrgangsstufe vor uns war Christa, eine blonde Wirtstochter aus Anzing; Karin war mit ihr gut befreundet, wir konnten sie jederzeit um Rat fragen, sie war immer lustig drauf.

Im März diesen Jahres, 2005, verstarb Christa, sie wurde nicht einmal 50 Jahre alt.

Völlig neu war für uns, dass in jeder Unterrichtsstunde eine andere Lehrkraft kam. Da war es fast tröstlich, dass wir Sr. Gundegard, die ja unsere Heimschwester war, auch als Klassenleiterin hatten.

Sr. Gundegard setzte Karin, Irmi, Hannerl und mich in eine Reihe; es war nun kein Vierertisch mehr, aber eine Viererbank.

In der Klasse 7b gab es nun vier mit meinem Namen: Eva-Maria. Was tun? Guter Rat war nicht weit: Ein Mädchen, mit südländischem Einschlag, auch intern, zuhause in München wurde Eva-Maria genannt. Eve und Eva nannten sich die beiden anderen und ich blieb Evi, was mir sehr recht war.

Mehrere Mädchen kamen aus München und sie hatten tatsächlich schon Englisch als Unterrichtsfach gehabt, ich war beeindruckt. Eine der ersten Lehrkräfte, die in unseren Klassenraum, der im Keller lag, betrat, war Sr. Marcella. Sie war unsere Englischlehrerin. Sie hatte eine eigenartige Art und sie erzählte uns so anschaulich und begeistert von England, dass ich manchmal das Gefühl hatte, ich wäre selbst schon dort gewesen. Sr. Marcella hatte eine hohe Meinung von der englischen Bevölkerung, ich dachte damals wirklich, dort wohnen ausschließlich zuvorkommende, liebenswerte Menschen. „Die Menschen stehen am Morgen in Reih und Glied an der Bushaltestelle an, mit dem Umbrella, dem Bowler hat und der Times. Sie sprechen kein Wort, sie informieren sich in der Zeitung“, erzählte uns Sr. Marcella mit unüberhörbarer Begeisterung in ihrer Stimme.

Nonnen sind bekannt dafür, dass sie sich sehr bald „Lieblinge“ aus einer Klasse erwählen. Sr. Marcella entspricht voll diesem Klischee; sie erkor sehr schnell „Lieblinge“. Dazu zählten vor allem die Mädchen, die bereits Englischkenntnisse mitgebracht hatten. Sr. Marcella fühlte sich geschmeichelt und stieg ungeniert in das Unterrichtsniveau ein. Ich tat mich schwer und ich gehörte wirklich nicht zu den Favoriten von Sr. Marcella. Sehr schnell bekamen wir „Anzinger“ zu spüren, dass wir nun auf einer Schule waren, wo viel eingefordert wurde, das unbeschwerte Dorfleben war abrupt zu Ende gegangen. Dies empfanden wir jedoch als Herausforderung, so schnell gaben wir nicht auf.

Es kam, wie es unweigerlich kommen musste: Das erste Englischdiktat erwies sich als pures Desaster. Sr. Marcella diktierte laut und vernehmlich, jedoch für mein Empfinden viel zu schnell.

Ich kam nicht mit, das hatte einen einfachen Grund: ich schrieb die Satzzeichen aus. Bis ich z. B. „exclamation mark“ geschrieben hatte, hatte ich den Anschluss verloren und das Diktat war gerade noch die Note ausreichend wert. Als ich an diesem Wochenende nachhause kam, erzählte ich meinen Kummer und mein Vater kümmerte sich um den Englischunterricht. Das hatte zur Folge, dass Karin, ich und noch einige „Newcomer“ in diesem Fach an einem Nachmittag in der Woche „Nachhilfeunterricht“ bekamen. Im Grunde hatten wir dadurch lediglich die Möglichkeit, mit dem Unterricht von vorne anzufangen. Es war jedoch eine gute Geschichte, denn ich holte auf und entwickelte zunehmend Freude an der Fremdsprache.

Wir hatten jedoch nicht nur Nonnen im Unterricht, sondern auch recht progressive junge Lehrerinnen. Ich war erstaunt und bald auch begeistert. „Evi sollte etwas mehr hochdeutsch sprechen“, sagte eine junge Lehrerin zu meinem Vater, beim ersten Elternsprechtag. „Des werd sicher schwierig wern“, erwiderte mein Vater „wissen`s, mei Frau is aus Oberbayern, i bin aus Niederbayern“, gab mein Vater die passende Antwort.

Sehr schnell merkten wir, dass es ganz gut war, im Keller das Klassenzimmer zu haben. Die Direktorin führte ein unerbittliches Regime. Sie war gefürchtet, bei den Schülerinnen, bei den Lehrkräften und bei den Schwestern. Sie war eine sehr schöne, hochintelligente Frau, aber vielleicht wirklich im Kloster fehl am Platz. Es kursierten viele Gerüchte über diese Frau; eines besagte, sie hätte bereits Schauspielunterricht gehabt und durch einen herben privaten Schicksalsschlag den Weg in`s Kloster gewählt hat. Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass sich alle Menschen vor ihr fürchteten. Sie sprach kein lautes Wort, alleine die Art, wie sie einen ansah und behandelte, ließ einem Schauer über den Rücken laufen. Mit unserer Heimschwester war sie sowas wie befreundet.

An einem sonnigen Nachmittag klopfte es manchmal an die Türe des Heimzimmers, schon am Klopfen wussten wir, wer vor der Türe stand. Sie klopfte unverkennbar: zweimal laut und deutlich, kurz hintereinander. Sie holte Sr. Gundegard zum nachmittäglichen Spaziergang ab. Der Weg führte die beiden Nonnen in den wunderschön angelegten Klostergarten und über den neuen Sportplatz. Wir konnten Abschnitte des klösterlichen Rundganges durch das Fenster verfolgen. Sr. Gundegard richtete von sich aus nie das Wort an die Direktorin, sie wartete, bis die „Vorgesetzte“ sie ansprach.

Als dann im vorletzten Jahr meines Aufenthaltes in Erding eine neue Nonne zuversetzt wurde, sie war eine lebhafte Frau, war „unsere“ Heimschwester bei der Direktorin abgemeldet. Natürlich ließ sich Sr. Gundegard nichts anmerken, aber wir spürten deutlich, wie sie litt, als die Direktorin ihre Spaziergänge und die vertrauten Gespräche mit der „neuen“ Nonne durchführte.

Wir Schülerinnen hatten einen fest geregelten Tagesablauf. Morgens weckte uns Sr. Gundegard und nach den üblichen morgendlichen Verrichtungen ging die ganze Gruppe zum Gebet in das Heimzimmer. Danach wurde im Speisesaal gefrühstückt und wir trafen uns im Klassenzimmer wieder. In der Pause rannten wir in den Speisesaal und schmierten uns Pausenbrote. Bei Sr. Lauretta an der Pforte gab es immer Milch oder Kakao zu kaufen. Sie war die Seele des Klosters und bildete auch sowas wie eine Kontaktperson zur Aussenwelt! Bei Sr. Lauretta konnte man telefonieren und sie wusste ganz genau, wer das Kloster verließ und natürlich, wer wann und mit wem zurück kehrte!

Sr. Lauretta sollte über 100 Jahre alt werden, sie verstarb erst kürzlich in München.

Sr. Lauretta hatte die „Macht“, Telefonate durchzustellen oder abzuwimmeln. Am Abend bimmelte manchmal der Hausapparat, für alle vier Zimmer gab es einen Wandapparat, der hing im Flur.

Es war immer spannend, an`s Telefon gerufen zu werden.

Mein Vater hatte es sich zur lieben Gewohnheit gemacht, und das vier lange Jahre, jeden Mittwoch Abend nach Erding zu fahren, um mich zu besuchen. Das war ein guter Tag: Mittwochs gab es immer Mehlspeisen und die schmeckten mir und vielen meiner Mitschülerinnen gar nicht! So brachte mein Vater immer eine Tüte mit heißbegehrten Wurstsemmeln mit. Ich legte eine Liste an, in der die Namen von Freundinnen standen, die eine Semmel abbekommen sollten. Die Freude war immer riesig, wenn ich nach dem Besuch, der im kargen Besucherzimmer, gleich neben der Pforte, stattfand, mit der Semmeltüte, die in der Regel sechs Wurstsemmeln enthielt, in`s Heimzimmer zurück kehrte.

„Der Pfarrer von Anzing möchte seine Schäfchen sprechen“, rief Sr. Lauretta mit einem schelmischen Blick in`s Besucherzimmer. Mir war die Geschichte peinlich, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass der Pfarrer von Anzing im Kloster anrief. Mein Vater stand neben mir, als ich den Höhrer aufnahm. „Danke, mir geht es gut, der Christa und der Karin auch,“ war so ziemlich alles, was ich sagte. Schnell hängte ich ein und begegnete wieder dem Schalk in Sr. Laurettas Augen. Das erste Schuljahr verging wie im Flug; ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen.

Zumindest in der siebten Klasse in Erding Textfeld:  
Bild 27: Anzing 1971
hatten wir noch jeden zweiten Samstag Schule. Das bedeutete, dass wir nur jedes zweite Wochenende nachhause fahren konnten. An den Sonntagen im Internat stellte sich manchmal eine gewisse Sehnsucht, sprich Heimweh ein. Karin und ich entwickelten eine sehr große Leidenschaft für das Federballspiel. Bei Regen spielten wir im Klostergarten mit Schirm, wir waren wirklich gut.

Viel Augenmerk wurde auf den Handarbeitsunterricht gelegt. Fast hatte ich meine schlechten Erfahrungen mit Fräulein Weichsler aus Anzing vergessen, da ereilte mich ein neues, schmerzhaftes Ungeschick. Wir lernten an den Nähmaschinen zu nähen. Zuerst war ich sehr angetan. „Evi setz dich ab heute bitte an die Nähmaschine, die hinter dir steht“, sagte Sr. Alvera, unsere Handarbeitslehrerin. Missmutig nahm ich vor dem alten Ungetüm Platz. Ich konnte sie kaum treten, alles war schwarz, alt, ich ärgerte mich, dass ich den Platz vor der neueren Maschine räumen musste. Jetzt verfing sich auch noch der Faden und es gab ein schreckliches Durcheinander. Sr. Alvera war bereits auf dem Weg zu mir, als die Nadel runtersauste und mir den Zeigefinger durchstach. Ich schrie auf und zerrte die Nadel aus dem Finger. Nun umringten mich Mitschülerinnen und die Schwester war erstaunlich schnell zur Stelle. Sie besah sich das blutende Missgeschick und schickte Karin und mich sofort zum Arzt. Karin war meine Begleitperson und über die Unterbrechung des Unterrichtes sehr froh. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach Erding und ich schwor mir, mich nie wieder an eine Nähmaschine zu setzen. „Wenn du dein Nachthemd nicht fertig nähst, Evi, muss ich dir die Note „6“ auf diese Arbeit geben“, sagte Sr. Alvera zu mir. Mein Finger war bandagiert und ich dachte gar nicht daran, mich wieder vor so ein Ungetüm zu setzen. Irmi, meine Zimmerkollegin nahm mich auf die Seite: „ Ich nähe es dir“, sagte Irmi, „mein Hemd ist fertig, ich habe Zeit“. Sr. Alvera duldete diesen „Betrug“ stillschweigend und ich war froh; bis heute kann ich keine Nähmaschine bedienen!

Langsam aber sicher begannen wir die Herzogstadt Erding zu erkunden. Kein Vergleich zum heutigen, schönen Stadtbild! Damals war Erding noch in einem ungepflegten Zustand. Das störte uns Jugendliche jedoch gar nicht. Wir machten es uns zur lieben Gewohnheit, nach dem Unterricht und dem Mittagessen in die Stadt zu laufen. Wir hatten oft nur eine Stunde, bis zur Lernzeit, die pünktlich um 14:30 Uhr begann. Natürlich waren wir immer pünktlich zurück, es hätte uns einen Heimverweis eingebracht, hätten wir uns verspätet.

Im zweiten, spätestens im dritten Schuljahr hatten wir an den Samstagen keinen Unterricht mehr.

Damals setzten wir mit Nachdruck durch, dass wir an jedem Wochenende nachhause fahren konnten. Das ging nicht ohne Schwierigkeiten mit der ehrwürdigen Frau Mutter Oberin ab. Sie war eine kleine Frau, machte zumindest einen netten Eindruck und sprach mit uns Kindern. Wenn sich jedoch jemand gegen ihren Willen stellte, konnte sie sehr verletzend reagieren.

Sie wollte grundsätzlich nicht, dass wir im Wochenrhythmus nachhause fahren. So mussten alle Internen, die wöchentlich heim wollten, einen, von Elternhand unterschriebenen Zettel vorlegen, in dem die Eltern bekräftigen, dass sie wünschen, dass das Kind nachhause kommt. Damit nicht jedes Mädchen einzeln mit dem Zettel zur ehrwürdigen Frau Mutter Oberin kommt, sammelte ich die Zettel geschlossen ein und legte sie zur Prüfung vor. Alles okay, wir konnten fahren.

Irgendwann sammelte „Guggy“ für mich die Zettel ein und brachte sie zur ehrwürdigen Frau Mutter Oberin. Als sie zurück kam, flüsterte sie mir zu: „ Die „Alte“ behauptet, du hast die Unterschrift gefälscht!“ „Was, das ist doch nicht zu glauben! Ich gehe gleich zu ihr“, erboste ich mich. „Sie hat nicht gesagt, dass du kommen sollst“, erwiderte Guggy, aber ich war schon auf dem Weg. Das ließ mich besonders schäumen, dass sie mich nicht einmal fragen wollte, aber diese ungeheuere Behauptung in den Raum stellte.

Ich klopfte laut und vernehmlich – nichts, keine Antwort! Nochmal: poch, poch. Ich hörte nichts, machte aber vorsichtig die Türe auf. Man musste genau hinsehen, damit man sie sitzen sah. Hinter dem mächtigen Schreibtisch, der in einem von dunklen Möbeln übersähten Zimmer stand, übersah man die schmächtige Gestalt sehr leicht. Ich war jedoch schon oft in diesem Zimmer gewesen, kannte mich aus. Sie sah nicht mal auf. „Ehrwürdige Frau Mutter Oberin“, begann ich und kam mir plötzlich kleiner vor, als wie sie. „Was willst du?“ herrschte sie mich an und da wusste ich, dass sie haargenau wusste, weshalb ich hier war. „Ich habe die Unterschrift nicht gefälscht und deshalb rufe ich jetzt meinen Vater an, damit er es ihnen bestätigen kann“. „Du rufst nirgendwo an...“, was sie weiter hinter mir herrief hörte ich nicht mehr, denn ich war auf dem Weg zur Pforte.

Ich hatte noch nicht die Nummer von unseren Nachbarn Schels gewählt, (wir hatten zu dieser Zeit noch kein Telefon), da drückte ein weißer Nonnenzeigefinger auf die Gabel und das noch nicht begonnene Gespräch war abrupt beendet. So schnell gab ich jedoch nicht auf: ich wählte nochmal die Nummer, die ich natürlich auswendig kannte. Sr. Lauretta hielt den Atem an und die ehrwürdige Frau Mutter Oberin stand vor mir und blitzte mich zornig an.

Es kam zu einem klärenden Gespräch zwischen ihr und meinem Vater, aber das Verhältnis zwischen ihr und mir war von diesem Augenblick an eisig.

An sonnigen Tagen durften wir in`s Freibad. Das war eine schöne Zeit: Karin, Irmi, Hannerl und ich unternahmen in der knappen Freizeit viel gemeinsam und wir hielten fest zusammen.

Wir alle waren in der Pubertät, es war nicht einfach. Im Religionsunterricht, bei Pater Bonfilius lasen wir die Bravo und manch ein Mädchen hatte in diesen Jahren schon Erfahrungen mit den Jungs gemacht. Diese Erfahrungswerte wurden ausführlich in den Zimmern diskutiert.

Sr. Gundegard fand keinen Draht zu uns als Gruppe, so blieben wir uns meist selbst überlassen. Sie beaufsichtigte uns, damit wir ordentlich zur Schule gingen, die Essenszeiten und natürlich die Lernzeiten einhielten und am Abend um 21:00 Uhr löschte sie eigenhändig die Lichter in den Zimmern.

Persönlich hatte ich keine großen Probleme im Internat. Ich hatte meine Freundinnen und wenn mir jemand zu nahe kam, wehrte ich mich. Wir hatten unseren Spaß. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir uns manchmal, aus lauter Übermut und wenn keine Nonne in der Nähe war, einander einen Fuß stellten. Es war nicht ungefährlich und gar manchmal lagen wir auf dem Bauch. Karin war gut gepolstert und schlitterte einmal ein Stück auf dem Bauch den langen, frisch gebohnerten Gang entlang.

Speziell an Winterabenden konnten wir beobachten und hören, wie die Nonnen untereinander stritten. Es ging unter anderem darum, ob das Licht eingeschaltet wurde oder nicht. Die Gänge konnten unheimlich wirken und die Säulen in dem alten Kloster wirkten bedrohlich. Die Böden knarrten und wir Kinder waren froh, meistens zu zweit oder in der Gruppe unterwegs zu sein.

Der Schulablauf veränderte sich langsam, aber stetig. Die jungen, flotten Lehrerinnen in den Miniröcken lockerten das düstere Bild auf. „Eine Handbreit über dem Knie“, war uns erlaubt zu tragen. Natürlich mussten sich auch die Lehrerinnen daran halten. Die externen Mitschülerinnen durften auch in den bitterkalten Wintermonaten keine Hosen in dem Schulgebäude tragen. Sie konnten in Hosen die Busfahrten zur Schule und von der Schule nachhause machen, aber in der Garderobe mussten sie sich vor dem Unterricht einen Rock anziehen.

In den Schulpausen war Bewegung angesagt, durchdachte, organisierte Bewegung. In den endlos langen Gängen mussten wir in einer Richtung, mit nur einer Partnerin, allerhöchstens mit zwei Mädchen auf und ab gehen. Die Fliesen der Gänge waren in dunklem Ton gehalten, die Ränder in hellem Ton. Das hieß für uns, dass wir ausschließlich die dunklen Fliesen betreten durften. Es wurde von der Pausenaufsicht akribisch darauf geachtet, dass die hellen Platten nicht betreten wurden und somit war einigermaßen sicher gestellt, dass die hell gestrichenen Wände nicht beschmutzt wurden.

Wir hatten nun eine weltliche Klassenleitung und verehrten das Fräulein Scholz geradezu. Mutig trug sie die gestreiften Miniröckchen und schien sich das erlauben zu können, denn die Direktorin mochte sie. Wahrscheinlich hatte Frl. Scholz die besten Referenzen in den Schuldienst mitgebracht. Aber eines Tages war es aus, mit der gnädigen Nachsicht der Direktorin. Natürlich haben wir nie erfahren, was sich im Direktorat zugetragen hat. Vielleicht war es wirklich das banale Tempotaschentuch, das unser geschätztes Fräulein in der Hand trug, als sie sich auf dem blauen Läufer dem Schreibtisch näherte. Denn unsere Direktorin war eine Fanatikerin und Perfektionistin in jeder Hinsicht. Vielleicht hat Fräulein Scholz auch lediglich einen „Fehltritt“ getan, was im Direktorat sehr leicht passieren konnte. Jeder „Sterbliche“ durfte sich nur auf dem schmalen Läufer dem Schreibtisch nähern, niemand durfte auf den weißen Flokati treten.

Mit Tränen in den Augen erklärte uns Fräulein Scholz, dass sie bald einen Offizier heiraten werde und aus diesem Grund die Schule sofort verlassen wird.

Ähnliches erlebten wir ein Jahr später wieder. Eine junge, blonde engagierte Lehrerin gewann unsere Herzen im Sturm. Wieder unterrichtete sie die Fächer Deutsch und Geschichte, wie Frl. Scholz, beide Fächer mochte ich gerne. Sie führte uns an Schriftsteller heran und sprach über das Zeitgeschehen. Nicht nur ich war begeistert.

Leider verließ sie uns sehr schnell, sie erwartete ein Baby.

Manche Schülerinnen, vorwiegend aus München, verließen das Internat. Sie wechselten als Externe in Realschulen der Stadt München.

Ich blieb, mir ging es soweit ganz gut. Wir hatten eine tolle Zimmergemeinschaft und wir hatten Zuwachs aus Anzing bekommen: Susi war nach Erding, in`s Internat gewechselt. Es versprach lustig zu werden, wir wurden nicht enttäuscht.

Zoff im Elternhaus! Am Dienstag, den 13. Juli 1971 stand in der Ebersberger Zeitung:

 

Kann Landeplatz gebaut werden? Zwei Privatflieger wollen auf einer Wiese Landebahn errichten

Poing ist dagegen, Anzing dafür!

Zur Zeit läuft ein Planfeststellungsverfahren zur Errichtung eines Sonderlandeplatzes für Sportflugzeuge in Anzing. Zwei Anzinger Bürger, die beim Flugsicherungsdienst in München arbeiten, wollen für ihre Sportflugzeuge eine Landebahn“.

 

Diese zwei Bürger waren mein Vater und sein Freund und Nachbar Sepp.

Poing hatte Angst, wegen des Fluglärms und vor allem wegen des Wildparks, die Genehmigung wurde nicht erteilt. Der damalige Verwaltungsleiter und spätere Bürgermeister Alfred Dorsch in Anzing sprach sich für die Landebahn aus, Poing blieb beim Nein!

Meine Mutter wurde im Dorf auf den „Flughafen in Anzing“ angesprochen und das ärgerte sie. Mein Vater und sein Freund verbrachten daraufhin mehr Zeit im Fliegerclub in Eichstätt.

Es war nicht zu übersehen und zu überhören, wir waren in der Internatsgruppe nun 24 pubertierende Mädchen. Sr. Gundegard zog sich immer weiter von uns zurück, das störte uns nicht. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu ihr und näher bzw. intensiver wollte ich es gar nicht haben.

Bei den Klassentreffen erzählen manche ehemalige Mitschülerinnen von Gegebenheiten, die ich nicht alle weiß, von denen ich erst jetzt erfahre. So hat mit Sicherheit jedes Mädchen individuelle Erfahrungen im Heim gemacht. Nicht alles wurde in der Gruppe bekannt, manches habe ich sicherlich auch schon wieder vergessen.

Susi kam, sah und siegte. Mit einigen Mitschülerinnen verstand sich Susi sofort und sofort nach ihrer Ankunft begann Susi offen zu rebellieren. An einem Abend in der Woche hatten wir im Heimzimmer „Anstandsstunde“. Meistens wurde diese von der ehrwürdigen Frau Mutter Oberin durchgeführt, manchmal auch von unserer Heimschwester.

Die ehrwürdige Frau Mutter Oberin versuchte, uns den Glauben mit romantischen Geschichten nahezubringen. In diesem Alter neigt man zu Kritik und wir hatten manchmal den Mut, diese zu äußern.

„Für jede gute Tat, die ihr auf Erden erbringt, kommt eine blühende Blume in den Himmel“, sagte die Oberin „ für eine schlechte Tat kommt eine verwelkte Blume in das Himmelreich“, vollendete sie ihre Ausführungen. „Da muss bei mir schon ein ganzer Misthaufen oben sein“, laut und vernehmlich war Susi mit sich in`s Gericht gegangen. Susi hatte eine sehr hilfsbereite Art. Sie war geschickt im Umgang mit Pinsel und Farbe, konnte gut handarbeiten und half mir manchmal mit guten Tipps. Sie war gerade dabei, einen Pullunder zu stricken, so wie wir alle .Friedlich saßen wir im abendlichen Heimzimmer und arbeiteten fleißig an unseren Werken. Sr. Gundegard betete ihr Brevier; plötzlich ein wütender Aufschrei, ein Griff zur Schere und Susi begann in einem Anfall von Wut ihre Handarbeit kreuz und quer in Stücke zu schneiden.

Noch ein paar Mal „besuchte“ uns die ehrwürdige Mutter, dann gab sie ihre „Erziehungsversuche“auf.

Vielleicht hat sich Sr. Gundegard bei ihren Mitschwestern beklagt, über uns allgemein, ich weiß es nicht so genau. Auf alle Fälle hat die Schuldirektorin ein Machtwort gesprochen und uns „ihre neue Freundin“, Sr. Isentraud geschickt. „Seid ja vorsichtig, was ihr der sagt, die will uns nur ausspionieren“, sagten einige Mädchen, bevor die flotte junge Schwester unser Heimzimmer betrat.

Das Misstrauen ihr gegenüber war spürbar, aber die erfahrene Nonne ließ sich nichts anmerken.

Sie nahm mit ihrem gewinnenden Lächeln in der Sitzgruppe Platz und bat uns, einen Halbkreis zu bilden. Viele meiner Mitschülerinnen waren interessiert. Sr. Isentraud begann im Plauderton von sich zu erzählen. So erfuhren wir, dass die Nonne zwei Brüder im Kloster in St. Ottilien hat. Wir durften das Kloster und die Theateraufführungen besuchen. Aus dieser Zeit habe ich einen Brief, den mein Vater aufbewahrt hat entdeckt: Erding, den 20.04.1970

 

Lieber Papi,

Du kannst mich leider am 22.April nicht anrufen, weil wir nach St. Ottilien fahren. Die Fahrt kostet 6.--DM; wir bekommen sie verbilligt, weil Sr. Isentraud zwei Brüder in diesem Kloster hat.

Die Gymnasiasten spielen Theater, für uns fallen zwei Schulstunden aus. Juhu!!!

Am Sonntag bin ich nicht Autogefahren, leider! Aber am ersten Mai fahre ich ganz gewiss.

Ich hoffe, es geht dir gut, in Bad Honnef, und Du erholst dich von den schweren Operationen.

Mit Mutti komme ich soweit ganz gut aus, ich mähe den Rasen, sie kocht. Der Herr Finauer holt uns immer pünktlich ab und am Montag morgen sitzen wir wieder rechtzeitig im Klassenzimmer.

Nun grüßt Dich deine liebe Tochter und das halbe Internat! (Es folgten elf Unterschriften von Mitschülerinnen).

Auch von Sr. Gundegard soll ich viele liebe Grüße und alles Gute schreiben.

 

Zum Autofahren will ich folgendes anfügen: Ich war eine gewagte „Schwarzfahrerin“, eine leidenschaftliche dazu! Sobald ich am Freitag die Internatstore hinter mir gelassen habe, bin ich mit Vaters Opel Kadett zu meiner Freundin Dora, über die holprigen Feldwege, mit dem Auto gefahren. Mein Vater hat mir das Autofahren beigebracht und ich war verrückt danach. Das Autofahren bedeutete für mich ein Stück Freiheit. Ich war nicht die einzige „Schwarzfahrerin“ im Dorf, damals war es fast üblich, dass Minderjährige ohne Führerschein irgendein Vehikel bewegten!

Anzing war für mich immer noch der Mittelpunkt der Welt. Ich liebte die Zeit in dem Dorf, ging aber auch sehr gerne unter der Woche in die Realschule nach Erding.

Nachdem wir von St. Ottilien zurück gekehrt waren, schrieb ich meinem Vater in das Rheinland, in die Kurklinik, dass es dort sehr schön ist, die Internen hätten die Möglichkeit zu reiten, sie dürften auch die Pferde versorgen.

Die Patres wären wohl auch in Ordnung, aber das Essen sei genauso schlecht wie in Erding!

Mittlerweile hatten wir in Altenerding einen Tante Emma Laden entdeckt. Die ganze Aufmachung erinnerte mich doch sehr an den vertrauten Laden der „Reis Cence“ in Anzing. Selbst die alte Frau, die uns bediente, sah ihr sehr ähnlich. Viele meiner Mitschülerinnen kauften sich nach einem misslungenen Mittagessen im Internat bei der alten Frau in Altenerding, gleich neben der Kirche, eine Wurstsemmel mit Essiggurke!

Und noch etwas hatten wir entdeckt: die Jungs von Erding und Altenerding. Da gab es manchmal ein verschmitztes Zwinkern, eine Bitte um ein Alibi von einer Mitschülerin! Meist verließen wir die Klosterpforte in Gruppen von drei oder vier Mädels, aber gleich nach der ersten, langgezogenen Rechtskurve löste sich eines Mädchen und kletterte auf einen Roller, dessen Fahrer schon sehnsüchtig auf seine Angebetete wartete. Wir anderen marschierten tapfer weiter, bemüht, nicht neugierig zu sein.

Es blieb maximal eine Stunde für dieses Mittagsrendezvous. Jede wusste, dass sie genau an dieser Stelle auf die Gruppe treffen musste, sonst müsste sie den Weg in`s Kloster alleine zurück gehen. Ein großes Risiko stellten auch die Schwestern dar: manch eine ging gerne nach dem Essen in die Stadt und wehe, wenn sie ein Mädchen mit einem Verehrer erwischt hätte.

Susis Erdinger Freund Charly hatte dann auch gleich ein Auto. Stolz setzte sich Susi in den Wagen und sie hatte plötzlich eine große Vorliebe für Maiandachten entwickelt. Jeden Abend machte sie sich auf den Weg zur Erdinger Stadtpfarrkirche. Der Fußweg endete für sie in der langgezogenen Rechtskurve, dort wartete Charly....

Charly beging einen großen Fehler. Aus lauter Sehnsucht fuhr er an einem Wochenende nach Anzing und wurde prompt von Susis Mutter „entdeckt“. Es muss sich eine fürchterliche Szene zuhause abgespielt haben, denn Susi beendete ihre Rendezvous, zumindest mit Charly. Das Stimmungsbarometer in dem stillgelegten alten Bauernhof war jeden Montag morgen sofort, wenn wir auf das Haus zufuhren, abzulesen. Des öfteren sass Susi buchstäblich auf gepackten Koffern vor dem Gartenzaun. Susi war immer die Letzte, die zustieg und die erste, die ausstieg.

„Du, mit diesem blöden Typen, der spinnt doch und ist so entsetzlich kindisch, das kann doch nicht dein Freund sein“, machte sich Susi über meinen „Schwarm“ lustig! Ehe sie sich versah, landete ein Plastikbecher, den ich ihr nicht in`s Gesicht werfen wollte, (vielleicht hat sie sich auch geduckt, wer kann das in diesem Moment auch sagen), an ihrer Oberlippe. Mir tat der Wurf leid, aber geschehen ist nun mal geschehen, ich kann es leider nicht rückgängig machen! Erschrocken blickten wir auf den vorderen Schneidezahn, von dem ein Teil abgebrochen war. Nun war es mit der Klostergartenidylle erst mal dahin. Auweia, das würde Folgen haben! Sr. Gundegard hielt sich aus allem raus und ich telefonierte mit meinem Vater. Er und Susis Mutter kamen am Abend und ich bekam den Zorn der kleinen, kämpferischen Frau zu spüren. Über die Versicherung wurde der Schaden abgewickelt und Susi erklärte mir, sie wolle mit meinem kindischen Freund nichts mehr zu tun haben. Sollte ich einmal ein Alibi benötigen, stand sie nicht zur Verfügung. Basta!

Kurze Zeit später, wir hatten gerade Biologieunterricht, beim Herrn Kniddelberger, erschallte laute Musik durch die geöffneten Fenster. Alle blickten erstaunt nach draußen und wir staunten nicht schlecht. Ein kleiner hellblauer Fiat 500 mit Boxen auf dem Dach beschallte das Schulgebäude und zwei jungen Burschen winkten in die Klassenräume. Sie hatten sich vor dem Haus der Patres, in dem auch Pater Bonfilius wohnte, aufgebaut. Es dauerte nicht lange und der kleine Pater erschien mit rotem Kopf und versuchte, die Jungs wenigstens zum Einstellen der Musik zu bewegen. Kurz darauf wurde es ruhig und der „Fifi“ schlich langsam von dannen. „Ich kenne den Hans-Dampf nicht“, zischte Susi, die eine Reihe hinter mir saß und gab meinem Stuhl mir mit dem Fuß einen Stoß. „Die kommen doch gleich auf uns, weil das Auto eine EBE-Nummer hat“, setzte sie erbost dazu. Es sollte kein Nachspiel für uns haben und noch heute amüsiere ich mich köstlich über diese Unterbrechung des Unterrichts .Bei Herrn Kniddelberger mussten wir in einer „Ex“ein „Maikäferhaxerl“zeichnen; wirklich wahr, das ist keine fixe Idee von mir. Wir mussten den genauen Winkel und vor allem die tausend Härchen zeichnen, die so ein Maikäferbeinchen hat! (Ich weiss nicht mehr, welche Note ich auf das Maikäferhaxerl bekommen habe)

Karin ist verliebt! Natürlich bin ich eingeweiht und ich unterstützte die Geschichte voll. Gefällt mir doch der Freund von „Masche“ sehr gut! „Er“ ist ein total verrückter Kerl, aus Langengeisling. Er war in der Fachoberschule und dermaßen verrückt, er konnte kaum eine Minute still sitzen, er hatte nur Flausen im Kopf. Das gefiel Karin und sie wollte den jungen Mann unbedingt in der Mittagspause sehen. Wir beide machten uns zu Fuß auf den Weg nach Langengeisling. Wer die Strecke vom Kloster bis Langengeisling kennt, weiß, dass dies niemals in einer Stunde zu schaffen ist. Trotzdem, wir nahmen das Unmögliche auf uns. Natürlich war er gar nicht zuhause, er war in Freising und kam sowieso mit seinem Freund, der genauso verrückt ist, oft zum Kainz, in das kleine Restaurant in der Stadtmitte. Jetzt standen wir unverrichteter Dinge in Langengeisling und wussten nicht, wie wir in einer halben Stunde im Heimzimmer sitzen sollten. Mir kam eine vermeintlich gute Idee: per Anhalter zurück fahren. Es war zwar strengstens verboten, aber uns blieb keine andere Lösung. Sofort hielt ein Auto mit Landshuter Nummer. Karin kroch nach hinten und versteckte sich auf dem Rücksitz. Der Fahrer schaute uns erstaunt an, denn auch ich rutschte, soweit es ging, in den Fußraum des Autos. „Wir sind vom Internat und haben uns verspätet, bitte, bringen sie uns dorthin“, erklärte ich dem erstaunten Mann. „Wo ist das?“, ich dirigierte ihn durch Erding, bis zum vertrauten Schreibwarengeschäft, wo man in aller Regel von den Nonnen nicht gesehen werden konnte. „Fahren sie bitte schnell weiter“, bettelte ich, als ich prompt die Direktorin aus dem Geschäft kommen sah. Karin hatte sich komplett auf den Rücksitz gelegt und ich kauerte im Fußraum. Der freundliche Mann muss uns für total verrückt gehalten haben, er bog um die nächste Ecke und sagte, nun könnten wir seinen Wagen verlassen – ich glaube, er hat nie wieder junge Mädchen mitgenommen!

Aufgeregte Stimmen weckten mich an einem Samstag morgen. Ehe ich sie richtig zuordnen konnte, stand mein Vater vor meinem Bett und meinte, ich solle mich schnell waschen und anziehen und sofort runterkommen. Ich kam der Aufforderung nach und war mir sicher, dass die laute Stimme Susis Mutter gehörte, die, wie ich auch noch hören konnte, mittlerweile aus dem Wohnzimmer drang. Kaum hatte ich die Wohnzimmertüre geöffnet, fuhr mich Susis Mutter an, jetzt die Wahrheit zu sagen und alles zu sagen, was ich wusste! „Kennst du den Namen von Susis Freund? Wo wohnt er?“, das waren die Fragen, die sie dringend beantwortet haben wollte!

„Sie hat kürzlich einen Paul aus Grafing kennen gelernt, ich habe ihn noch nie gesehen“, gestand ich eingeschüchtert und wusste noch immer nicht, was eigentlich los war. „Wir fahren jetzt nach Grafing“, entschied mein Vater sofort „und du kommst mit“, sagte er zu mir. „Ich weiß aber nicht wie der noch heißt und vor allem weiß ich nicht wo der wohnt“, gab ich zu bedenken, aber das wollte keiner hören. Die Fahrt begann schweigend, ich saß hinten und wagte gar nicht, irgendwelche Fragen zu stellen. Immerhin berichtete mir Susis Mutter, dass Susi nach einem Streit nachts „ausgebrochen“ sei, sie begann leise zu weinen. Mein Vater fuhr nach Forstinning und bog rechts ab. Wir durchquerten den Ebersberger Forst, fuhren durch das Städtchen, Richtung Grafing.

Und plötzlich, auf einer Anhöhe sahen wir Susi tapfer vorwärts marschieren. Mein Vater stoppte und ehe er sich versah, wollte Susis Mutter das Auto verlassen. Er hielt sie am Arm fest und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Sie bleiben sitzen, lassen sie mich mit Susi sprechen“. Susis Mutter fügte sich und ich beobachtete, was nun geschah. Susi hatte uns bemerkt und lief einige Meter in`s freie Feld. Da sie aber die ganze Nacht durchgewandert war, war sie sichtlich müde und gab den Fluchtversuch auf. Mein Vater sprach sie an und sie kam auf`s Auto zu. Wortlos setzte sie sich zu mir auf den Rücksitz und wir fuhren schweigend nachhause.

Nicht nur Susi hatte Probleme mit ihrer Mutter, auch bei uns zuhause stauten sich die Ansichten, Konfliktstoffe häuften sich. Wir waren in der Pubertät und unsere Mütter im Wechsel, Konfrontation gab es genügend. Die Miniröcke und die Maximäntel, die Frisuren und die Welle der Emanzipation mit der neuen Musikrichtung erzeugten viel Zündstoff zwischen mir und meiner Mutter, es war eine schwierige Zeit. Ich beneidete Mitschülerinnen, deren Mütter jünger waren und vielleicht auch aus diesem Grund für uns Heranwachsende mehr Verständnis aufbrachten. Obwohl ich natürlich weiß, dass das Alter alleine nicht für eine Akzeptanz von Neuem, von Veränderungen abhängig ist.

Am ersten Schultag des zweiten Jahres in Erding brachte unsere Klassenleitung ein bildhübsches, dunkelhaariges, dünnes Mädchen mit in das Klassenzimmer. Sie war groß und lächelte ihr 24 Köpfe umfassendes Gegenüber mutig an. „Ich bringe eine neue Schülerin“, sagte Margarete Scholz, „Sie heißt Brigitte und wohnt in Pliening. Sie kommt jeden Morgen mit dem Bus. Herzlich willkommen, Brigitte“. Das war ein guter Beginn für eine Freundschaft, die zwischen ihr und mir bis heute hielt.

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Bild 28: Kurgarten Meran
„Kennst du den Fahrer des roten Manta, der Brigitte manchmal abholt“? Fragte mich Susi am frühen Nachmittag. Ich verneinte; Brigitte hat mir nie etwas erzählt; sie deutete einmal an, dass sie einen Freund hat, aber gesehen habe ich ihn nicht. Einige Zeit später sollte ich den jungen Mann kennen lernen; heute sind sie schon lange verheiratet. Brigitte und ich sollten viele unbeschwerte Stunden teilen. Wir wurden jeweils in den Jahren 1980 bzw 1981 und 1982 sowie 1984 Mutter und zwar von Mädchen. Zum Leben gehören jedoch nicht nur sonnige Tage, auch in Trauer erlebten wir Gemeinsamkeiten. So wollte es das Schicksal, dass mein Vater und ihr Schwiegervater innerhalb von 17 Tagen des Jahres 2005 in die Ewigkeit abberufen wurden.

An einem Abend im Heimzimmer hatte ich prompt meine erste „Schlägerei“. Nach all den Jahren weiß ich den Auslöser nicht mehr, aber ich weiß, dass es „hoch herging“. Sie hieß Isolde und kam aus München, nicht zu verwechseln mit „Isidor“, die eigentlich auch Isolde hieß. Isolde aus München und ich kamen uns aus irgendeinem Grund wirklich in`s Gehege und es ging über Tische und Bänke und als Schwester Gundegard das Heimzimmer betrat trennten wir uns notgedrungen.

Jeder liefen Tränen des Schmerzes über die Wangen und jede hielt einen Haarbüschel der anderen in den Händen. Sr. Gundegard tat so, als hätte sie uns Streithähne nicht bemerkt. So war letztendlich keine Lösung des Konfliktes zu erreichen.

Die Jahre in Erding neigten sich dem Ende zu; vier Jahre waren in Windeseile vorbei gegangen.

Wir standen vor den Abschlussprüfungen und hatten gewisse Bammel vor den umfangreichen Aufgaben. Ich weiß noch, dass ich in Deutsch einen Aufsatz über Gastarbeiter schrieb. Es war sozusagen ein gesellschaftliches Thema. Die Wirtschaftslage in Deutschland war hervorragend, wir hatten die besten Zukunftsaussichten.

Eine ausgelassene Abschlußparty wurde in Lindum, das ist eine Gaststätte in der Nähe von Dorfen gefeiert. Mit Bussen fuhren wir dorthin. Ausgelassen und gute Zukunftsperspektiven beflügelten uns. Das Leben lag vor uns, wir hätten die ganze Welt umarmen können und manchmal taten wir es!

In Anzing flatterten Schreiben von Post und Bank in`s Elternhaus, sie boten mir eine Lehre an, ich war geschmeichelt. Doch ich hatte andere Pläne: ich machte ein Praktikum in einem Münchner Kindergarten, mein Vorpraktikum, ich wollte Erzieherin werden. Ich habe den Entschluss, Erzieherin zu werden nie bereut.

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Bild 29: Treffpunkt in Anzing
Erst mal stand nach der erfolgreichen Abschlussprüfung Urlaub an, mit den Eltern und meiner Freundin Dora fuhr ich nach Meran. Man schrieb das Jahr 1972, die Olympischen Spiele wurden in München gefeiert, das hatte seine Auswirkungen bis nach Anzing. Prominenter Besuch war angesagt: Prinzessin Anne aus England interessierte sich für Ross und Reiter!

Die Kontakte in Anzing erweiterten sich deutlich, das Telefonhäuschen hatte an Anziehungskraft gewonnen. Wie im Fluge vergingen diese 34 Jahre, die zwischen den letzten Fotos und meinem Leben liegen.

In München hat das Olympia Stadion, das damals der letzte Schrei war, seine Anziehungskraft nicht eingebüßt, wenn auch vor den Toren der Stadt kürzlich das Allianz Stadion eröffnet wurde.

Nicht vergessen möchte ich meinen Ausführungen des blutigen Attentates am 5.09.1972. Arabische Freischärler dringen in den frühen Morgenstunden in das Quartier der israelischen Mannschaft ein, töten zwei Athleten und nehmen neun Geiseln.

Mein Einstieg in das Berufsleben begann in München. Jeden Werktag fuhr ich mit dem Bus in die Stadt, machte mein Vorpraktikum in München. In den folgenden Jahren rückte die schöne, bayrische Hauptstadt immer näher an unser Dorf heran.

Es bleibt zu wünschen, dass die dörfliche Kultur nicht unter dem Einfluss und der geographischen Nähe von München verloren geht.

Zu Beginn meines Buches erwähnte ich den Fall eines Inzest in dem beschaulichen Dorf, vor den Toren Münchens.

„Weißt Du, wie man sich fühlt, wenn man außen am Balkongeländer steht, die Leute hoch schreien und Du doch nicht den Mut aufbringst, zu springen?“, fragte mich eine Freundin aus Kindertagen. Alarmiert blickte ich auf und direkt in ihre klaren Augen. Ich schüttelte den Kopf und dachte: Was hat sie wohl in den Jahrzehnten, da wir uns nicht mehr gesehen haben, alles erlebt?

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Bild 30: Prinzessin Anne
„Du fühlst dich genauso, wie wenn du als Neunjährige von einem Mann, den du sehr gerne hast und zu dem du viel Vertrauen entwickelt hast, sexuell missbrauchst wirst“. Ich war blank entsetzt und im gleichen Augenblick, als Mitleid in mir hoch kam, konnte ich einige „wilde“ storys aus ihrem Leben besser verstehen und einordnen.

Den Inzest kann niemand wieder gutmachen, „frau“ muss lernen, dieses schreckliche Geschehen aufzuarbeiten, das geht fast nie ohne einen fähigen Therapeuten. Wir alle müssen lernen, mit diesem Verbrechen an unseren Kindern offen umzugehen, das heißt, aufzuzeigen, wenn wir von inzestuösen Handlungen in unserer Gesellschaft erfahren.